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Das Mädchen am Rio Paraíso

Das Mädchen am Rio Paraíso

Titel: Das Mädchen am Rio Paraíso
Autoren: Ana Veloso
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vielleicht umsonst waren. Würde ihre Patientin die schweren Verletzungen überleben? Und wenn ja – würde sie jemals wieder richtig gesund werden?
    Raúl stand wie angewurzelt neben dem Bett. Er wusste nicht recht, wie er sich verhalten sollte. Sanfte Gesten oder freudige Ausrufe waren nicht sein Stil, schon gar nicht wildfremden Personen gegenüber. Er zwang sich zu einem kurzen Lächeln, obwohl ihm wahrhaftig nicht danach zumute war. Das Mädchen verzog keine Miene.
    »Wie heißen Sie?«, fragte Raúl.
    Das Mädchen blickte ihn erschrocken an. Ihre Augen hatten eine graugrüne Farbe, wie er sie nie zuvor gesehen hatte.
    Es beschämte Raúl ein wenig, dass es ihm nicht gelang, mehr Mitgefühl in seine Stimme zu legen. In einem so sachlichen Ton hätte er mit einem Fremden auf der Durchreise oder mit einem Geschäftspartner reden können, aber doch nicht mit einem verängstigten Mädchen, das gerade aus der Bewusstlosigkeit erwacht war. Er wagte einen neuen Versuch.
    »Ich bin sehr froh, dass Sie aufgewacht sind. Wir haben uns große Sorgen um Sie gemacht. Würden Sie mir freundlicherweise sagen, wie Sie heißen und was Ihnen zugestoßen ist?«
    Diese Ansprache schien die junge Frau noch mehr zu irritieren. Sie runzelte die Brauen.
    Herrje, dachte Raúl, was hatte er sich da nur aufgehalst?
    »Ich glaube nicht, dass sie antwortet«, sagte Teresa, die gerade den Raum betrat. Sie trug ein Tablett, auf dem ein Teller dampfender Suppe, etwas Brot sowie ein Becher Milch angerichtet waren. »Sie hat seit gestern keine Silbe von sich gegeben. Vielleicht hat sie ihre Stimme verloren. Aber vielleicht versteht sie uns auch einfach nicht. Sie erscheint mir mehr wie eine von diesen Kolonisten. Nicht, dass ich je einen von denen zu Gesicht bekommen hätte. Aber sie sieht nicht so aus, als wäre sie von hier.«
    Nein, das tat sie wirklich nicht. Sie war hellhäutig und weizenblond.
    Aber nicht nur deshalb glaubte auch Raúl, dass es sich um eine Kolonistin handeln musste. Er hatte das Mädchen am Rio Paraíso gefunden. Der Paraíso war ein Nebenfluss des Rio dos Sinos, an dessen Ufer sich wiederum die ersten deutschen Einwanderer niedergelassen hatten. Sein Schützling kam mit hoher Wahrscheinlichkeit aus einer der »Colônias«, wie die Siedlungen der neuen Bewohner genannt wurden. Und wenn dem so war, dann sprach sie vermutlich kein Wort Portugiesisch. Diese Leute blieben meist unter sich.
    Aber wie war sie dorthin, ans Ufer des Paraíso, gelangt? Der Ort, an dem Raúl das Mädchen entdeckt hatte, lag weit von der nächstgelegenen Siedlung entfernt. Und wie hatte sie sich ihre schweren Verletzungen zugezogen? Mit ihren geschundenen Knochen und ihrem angeschlagenen Schädel konnte sie unmöglich so weit geschwommen sein, wenn sie denn überhaupt schwimmen konnte, was er bezweifelte. War sie ins Wasser gestürzt und fortgeschwemmt worden? War sie dabei unglücklich mit dem Kopf aufgeschlagen? War sie zu einem Spielball der Fluten geworden, hin- und hergeworfen zwischen Felsen, treibenden Ästen und Baumwurzeln, die bis in den Fluss reichten? Nur: Hätte sie dann so weit kommen können?
    Oder verhielt es sich vielmehr so, dass sie erst sehr viel näher an der Fundstelle ins Wasser gesprungen oder gefallen war? Aber warum sollte sie? Das Gebiet war undurchdringlicher Dschungel, da hatte eine junge weiße Frau nichts verloren. Hatte sie sich verirrt? War sie einem Puma begegnet, einer Schlange oder einem Indio auf der Jagd? Hatte sie sich in wilder Panik in den Rio Paraíso gestürzt, in der trügerischen Hoffnung, dies sei ihre einzige Rettung?
    Nun, wie auch immer die Antworten lauten mochten, nur eine Person konnte sie ihm geben. Und diese war offensichtlich außerstande, zu reden.
    Essen hingegen konnte sie, und das mit großem Appetit. Das Brot und die Suppe, mit denen Teresa das Mädchen gefüttert hatte, waren bereits vertilgt. Jetzt hielt seine Sklavin der Patientin das Glas Milch an die Lippen. Sie schlürfte es in einem Zug aus. Danach hatte sie einen Milchbart, und sie sah sehr jung damit aus.
    »Wenn man dich so sieht,
menina,
könnte man meinen, du wärst keinen Tag älter als siebzehn«, sagte Teresa zu dem Mädchen und tupfte ihr gleich darauf die Lippen und das Kinn ab. »Und genau das denkt der Senhor Raúl auch. Aber du und ich, wir wissen es besser, nicht wahr?«
    »Aber sieh sie dir doch an, Teresa! Ich bitte dich, dieses Mädchen ist nie im Leben dreiundzwanzig oder vierundzwanzig Jahre alt, so wie du
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