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Das Mädchen am Rio Paraíso

Das Mädchen am Rio Paraíso

Titel: Das Mädchen am Rio Paraíso
Autoren: Ana Veloso
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behauptest.«
    Die junge Frau zuckte zusammen.
    »Was müssen Sie auch so laut werden? Das arme Ding hat sich erschreckt«, kommentierte Teresa überflüssigerweise.
    Raúl hatte genug für heute. Er würde in den nächsten Tagen mal wieder nach dem Mädchen sehen, wenn es ansprechbarer wäre. Wortlos verließ er den Raum.
     
    Die junge Frau war erleichtert, als der Mann das Zimmer verließ. Er hatte mürrisch dreingeblickt, aber selbst wenn er gelächelt hätte, wäre sein Aussehen finster gewesen. Dunkle Augen, beinahe schwarzes Haar, stark gebräunte Haut. Wer war er, dass er unrasiert, mit Schmutzrändern unter den Fingernägeln und in unsauberer Kleidung – sehr merkwürdiger Kleidung obendrein – an ihr Krankenlager kam? Denn dass sie krank war und in diesem Raum gesund gepflegt wurde, das war ihr durchaus bewusst.
    Leider war das aber auch alles, was sie bisher begriffen hatte.
    Wie konnte man nur vergessen, wer man war? Das war doch nicht möglich! Doch sosehr sie ihr Gedächtnis auch bemühte, sie kam immer wieder zu demselben Ergebnis: Sie wusste nicht, wie sie hieß. Sie wusste nicht, wer sie war, wo sie herkam oder wie sie in der Obhut der Negerin gelandet war. Immerhin wusste sie noch, wie man atmete und aß und trank. Sie konnte sehen, hören, schmecken und fühlen. Nur mit dem Sprechen haperte es, doch das lag nicht am Verlust ihrer Stimme. Diese war, gleich nachdem sie ihre Kehle befeuchtet hatte, wiedergekehrt – die junge Frau hatte das, als sie sich unbeobachtet wusste, ausprobiert. Vielmehr hatte sie Angst davor, zu reden. Was, wenn man sie ebenso wenig verstehen würde, wie sie diese Leute verstand? Was, wenn sie Unsinn von sich gab? Wenn sie schon ihren eigenen Namen nicht wusste, woher sollte sie dann wissen, ob »Bett« wirklich Bett bedeutete, oder »Milch« Milch? Man würde sie für verrückt halten.
    Allerdings würde man sie ebenfalls für verrückt halten, wenn sie keinen Mucks von sich gab. Früher oder später musste sie etwas sagen. Zwar sprach man hier offensichtlich nicht ihre Sprache, aber vielleicht kannte man jemanden, der übersetzen konnte. Trotzdem scheute die junge Frau davor zurück, sich zu äußern – und je länger sie damit wartete, desto schwieriger wurde es. Eine irrationale Angst machte sich in ihrem Kopf breit, ganz so, als sei das Sprechen das Tor zur echten Welt, zu einer Wirklichkeit, die sie nicht wahrhaben wollte. Als würden die Dinge erst beginnen zu existieren, wenn man sie aussprach. Vielleicht war ihre echte Identität die einer Person, die sie überhaupt nicht leiden mochte. Und wenn sie etwas sagte, das diesen Leuten hier Aufschluss darüber gab, wer sie war, würde man sie dahin zurückschicken, woher sie kam. Und dort wären dann andere Menschen, die sich um sie kümmerten und die sie nicht wiedererkannte. Hatte sie Verwandte, einen Mann, Kinder? Würde sie sich an deren Namen erinnern? Nein. Und das wäre ungleich schlimmer, als von diesen Fremden – wenn es denn Fremde waren – angeschaut und behandelt zu werden wie ein dummes Kind. Das würde sie nicht verkraften und auch niemandem zumuten können. Jedenfalls nicht zum jetzigen Zeitpunkt.
    Vielleicht würde es ihrem Gedächtnis auf die Sprünge helfen, wenn sie einmal in den Spiegel schaute. Aber der – ein kleines, halbblindes Ding – hing schief und für sie unerreichbar über der Kommode. Vom Bett aus sah sie nur die Rostflecken am Rand des emaillierten Wasserkrugs, die sich darin spiegelten. Aufstehen konnte sie noch nicht. Sie hatte es mehrfach versucht und vor Schmerzen vorzeitig aufgeben müssen. Wenn sie nun dieser Negerin – wie hieß sie noch gleich? – durch Zeichensprache zu verstehen gäbe, dass sie sich gern im Spiegel ansehen würde? Bestimmt würde die Frau, die einen netten Eindruck machte, ihr diesen Wunsch erfüllen.
    Teresa verstand die Gesten ihrer Patientin sehr gut. Doch den Spiegel würde sie ihr gewiss nicht reichen. Das arme Kind würde sich ja vor seinem eigenen Anblick zu Tode gruseln! »Nein, nein,
menina,
für Eitelkeiten ist jetzt nicht die Zeit. Wenn du erst wiederhergestellt bist, kannst du dein Gesicht, das ohne die Wunden sicher sehr hübsch ist, den ganzen Tag bewundern.«
    Die junge Frau stieß einen kleinen Seufzer aus.
Menina,
das hatte sie jetzt schon öfter gehört. Hieß sie so? Es klang schön, aber es löste nicht den Hauch einer Erinnerung aus.
    Die Schwarze verließ das Zimmer mit dem Essenstablett und kam wenig später mit der
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