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Das Mädchen am Rio Paraíso

Das Mädchen am Rio Paraíso

Titel: Das Mädchen am Rio Paraíso
Autoren: Ana Veloso
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Bettpfanne zurück. Obwohl sie sich jetzt bereits seit einigen Tagen dieser demütigenden Prozedur unterzogen hatte, war sie der jungen Frau noch immer peinlich. Bei so intimen Verrichtungen wollte sie keine Zeugen haben. Zugleich empfand sie ihre Scham als ein gutes Zeichen: Solange sie sich für derartige Dinge schämte, war sie immerhin noch nicht auf die Stufe eines Tieres gesunken. Es bedeutete, dass ein Teil ihres Gehirns durchaus funktionstüchtig war, dass sie sich, wenn auch nur passiv, an ihre Erziehung erinnern konnte. Sie wusste zwar nicht, wer sie diese Dinge gelehrt hatte – auch nicht wie, wann und wo –, aber die Inhalte dieser Lektionen waren ihr präsent. Man verrichtete sein Geschäft nun mal nicht vor anderen Leuten.
    Und es gab sehr viel mehr Dinge in dieser Art. Etwa das Gefühl der Nichtsnutzigkeit, das sie immer überkam, wenn sie aufwachte und sich noch nicht orientiert hatte. In dem Moment, in dem sie die Augen aufschlug und die Helligkeit wahrnahm, in dem sie aber noch nicht begriffen hatte, dass sie an einem fremden Ort das Bett hütete, war ihre erste Empfindung immer die von Schuld. Trägheit und Faulheit waren schlimme Laster – das hatte man ihr offenbar so gut eingeimpft, dass sie sich dieser Lehre auch in ihrem derzeitigen Zustand entsann.
    Die meisten Düfte und Gerüche konnte sie nicht nur den entsprechenden Dingen korrekt zuordnen, sondern sie manchmal sogar mit bestimmten Gefühlen verbinden. Der Milchreis hatte sie an irgendetwas Schönes erinnert. Die Hühnersuppe hatte ihr Trost gespendet, warum auch immer. Andere Nahrungsmittel dagegen waren ihr unbekannt und schmeckten fremdartig, diese merkwürdige längliche, gebogene Frucht etwa, die gelb und süß war und eine mehlige Konsistenz hatte. Sie hätte schwören können, dass sie diese Frucht nie zuvor in ihrem Leben gekostet hatte, aber wie sicher konnte sie da sein? Womöglich war es ihre Lieblingsobstsorte gewesen.
    Des Weiteren wusste die junge Frau mit Gewissheit, dass es Sommer war, ein extrem heißer Sommer, denn die Temperatur in ihrem Zimmer war unglaublich hoch. Richtig stickig war es, drückend und schwül. Die junge Frau schwitzte unter ihrer dünnen Bettdecke. Ihre Kopfhaut juckte wie verrückt, doch der Verband hinderte sie daran, sich zu kratzen.
    Plötzlich flackerte ein Bild vor ihrem geistigen Auge auf, ganz kurz nur, blitzartig. Sie sah ein Mädchen, ein Sommergewitter, eine Scheune. Und sie spürte mit jeder Faser ihres Körpers, wie verschwitzt dieses Mädchen sich fühlte. Das war sie selber! Endlich! So flüchtig die Erscheinung auch gewesen sein mochte, es war ein Beginn. Die junge Frau schloss die Lider. Mit aller Macht versuchte sie, weitere Eindrücke und Bilder aus ihrer Vergangenheit heraufzubeschwören, aber es gelang ihr nicht. Das Einzige, was sie damit erreichte, war, dass sie fast ohnmächtig vor Schmerzen wurde. Sie musste sich ausruhen. Innerhalb weniger Sekunden döste sie ein.
     
    Der Finsterling weckte sie, indem er mit einem Zettel unter ihrer Nase herumwedelte. Sie blickte darauf, glaubte, sich vertan zu haben, und schüttelte den Kopf. Der Mann sah hinüber zu der Schwarzen, die am Fenster stand und die Läden zuzog. In einem Ton, der unmissverständlich nach Triumph klang, äußerte er ein paar Worte. Dann schaute er der Patientin tief in die Augen, deutete auf das, was er auf den Zettel geschrieben hatte, und nickte. Sogar ein Lächeln gelang ihm. Er sah auf einmal gar nicht mehr so furchteinflößend aus.
    Auf dem Zettel stand ein Datum: 16 . 3 . 1827 . Und eine solche Zahlenfolge, so hatte Raúl richtig vermutet, musste auch eine Ausländerin verstehen können, sofern sie des Lesens mächtig war.
    Die junge Frau starrte immer noch ungläubig auf die Zahlen. Wollte der Kerl sie auf den Arm nehmen? Und weil das Kopfschütteln einen neuerlichen Schub böser Schmerzen in ihrem Schädel ausgelöst hatte, blieb sie reglos liegen und flüsterte in ihrer Muttersprache vor sich hin: »Wie kann es im März so heiß sein?«
    Teresa und Raúl stockte fast der Atem. Ratlos sahen sie einander an. Die Sprache hatte das Mädchen also schon einmal nicht verloren. »Aber was in aller Welt«, brachte Teresa es auf den Punkt, »hatte dieses grausame Gestammel zu bedeuten?«

[home]
4
    A n fang März brach der Frühling aus. Das dachten wir jedenfalls. Die Krokusse bahnten sich ihren Weg durch eine Schneedecke, die innerhalb weniger Tage auf eine Dicke von nur noch einem Zentimeter
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