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Das Mädchen am Rio Paraíso

Das Mädchen am Rio Paraíso

Titel: Das Mädchen am Rio Paraíso
Autoren: Ana Veloso
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noch nicht reisefähig war. »Sie hat eine sehr robuste Natur, die Wunde heilt ausgesprochen gut. Trotzdem sollte sie auch daheim noch etwa zwei Wochen das Bett hüten.«
    Ich riss vor Schreck die Augen weit auf. »Aber meine Kommunion?«
    »Der liebe Gott lässt dich auch noch im nächsten Jahr deine Kommunion feiern. Danke ihm lieber dafür, dass du noch lebst.«
    Was wussten die Erwachsenen schon davon? Im nächsten Jahr wäre Lore nicht dabei. Ich wäre das älteste unter lauter kleineren Kindern. Im nächsten Jahr … das war eine so gigantische Zeitspanne, dass ich sie mir nicht vorstellen konnte und wollte! Warum sollte ich irgendjemandem dafür danken, dass ich noch lebte, wenn das Leben mindestens ein Jahr lang absolut keinen Sinn mehr für mich hatte? Ich schluchzte leise.
    »Sie braucht Ruhe«, sagte der Arzt. Damit scheuchte er meine Eltern aus dem Zimmer.
    Mit fortschreitender Wundheilung hellte sich meine Stimmung deutlich auf. Ich mochte vielleicht bis zum Tag meiner Kommunion nicht genesen sein, dafür aber konnte ich fortan mit etwas aufwarten, das niemand sonst von meinen Freunden hatte: Nicht nur hatte ich eine Blinddarmoperation überlebt, nein, ich war sogar in Gemünden gewesen! Das Städtchen lag vielleicht fünfzehn Kilometer entfernt von Ahlweiler, aber für uns Dorfkinder war das eine schier unüberbrückbare Distanz. Wir stapften an jedem Schultag brav die insgesamt zehn Kilometer nach Hollbach und zurück, und für die meisten von uns war das die weiteste Strecke, die wir uns im Leben von unserem Dorf entfernt hatten.
    Auch unsere Eltern hatten nicht viel vom Hunsrück gesehen, und erst recht nicht von anderen Regionen. In der Schule hatten wir Geschichten über den Rhein gehört, der nur fünfundreißig Kilometer entfernt war, aber für uns hätte er genauso gut im Hottentottenland liegen können. Dasselbe galt für die Mosel, von der Ahlweiler etwa fünfig Kilometer weit weg war. Wir hatten gelernt, dass an den Hängen von Rhein und Mosel Wein angebaut wurde, doch niemand konnte das so recht glauben. In unseren kühlen Höhen und auf unseren steinigen Äckern gediehen nur Kartoffeln prächtig, für die meisten anderen Feldfrüchte war es zu kalt. Wein! Da hätten sie uns auch gleich erzählen können, dass in den großen Flusstälern Zitronen und Apfelsinen wuchsen, Früchte, die keiner von uns je gesehen hatte.
    Als ich wieder daheim in Ahlweiler war, erzählte ich also allen Leuten, die mich an meinem Krankenlager besuchen kamen, wie meine sagenhafte Reise nach Gemünden verlaufen war. Ich musste sehr viel dazuerfinden, denn eigentlich hatte ich von dem Städtchen kaum mehr gesehen als das Haus des Arztes. Aber die Gefahr, dass ich beim Flunkern erwischt wurde, war verschwindend gering. Ich plapperte also munter drauflos, berichtete von den schönen großen Fachwerkhäusern mit ihren kunstvollen Schiefergiebeln, von dem süßen Klang der Kirchenglocken und von den vollkommen andersgearteten Kleidern der Leute. Ich erfand vornehme Kutschen, adlige Jungfrauen und mutige Offiziere. Ich hatte ein enormes Vergnügen daran, meine Freunde neidisch zu machen – auch dies, nebenbei bemerkt, eine Sünde, die ich hätte beichten können und sollen – und mich damit über die ausgefallene Kommunion hinwegzutrösten. Es war eine Art Wendepunkt in meinem Leben, denn der Erfolg, den ich mit meinen Märchen hatte, bestärkte mich darin, künftig weniger wahrheitsliebend zu sein als bisher.
    Wer wollte schon die Wahrheit hören, die doch meist trist und schäbig war? Die Menschen wollten sich an schönen Geschichten berauschen, an aufregenden Abenteuern, an phantastischen Begebenheiten. Wer geht nicht lieber in eine goldverzierte Kathedrale als in eine graue Backsteinkirche – abgesehen von evangelischen Leuten? Wer hört nicht lieber Märchen, in denen schöne, edle, fleißige Mädchen vorkommen, als Geschichten von dürren Kindern mit aufgeschlagenen Knien? Wer würde nicht lieber von verwegenen Rittern träumen als von schmalbrüstigen, lispelnden Burschen, die nach Kuhstall rochen? Mir selber erging es ja genauso, und je mehr ich im Laufe der Zeit die Wahrheit verdrehte, desto mehr glaubte ich selber an das, was ich da erzählte.
    Vor allem glaubte ich, dass ich nicht war wie die anderen. Ich war schließlich sogar in Gemünden gewesen, oder etwa nicht? Und das schon mit neun Jahren. Wo würde ich erst hinkommen, wenn ich groß wäre? Ein Los wie das meiner Mutter und aller anderen Frauen,
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