Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Luzifer Evangelium

Das Luzifer Evangelium

Titel: Das Luzifer Evangelium
Autoren: Tom Egeland
Vom Netzwerk:
Abweichungen der Ausgangsbedingungen dynamischer Systeme enorme Effekte haben können. Um es einmal in den Worten der Mathematiker auszudrücken.
    Als Konservator Koroljov vor einer Woche mit dem Telefon in der Hand in seinem Büro stand, war er im Begriff, eine Kettenreaktion in Gang zu setzen, deren Reichweite er nicht überblicken konnte. Eine halbe Stunde zuvor hatte er der Mumie die Handschrift aus den knochigen Fingern gezogen. Der Hörer des Telefons war bereits schweißnass. Wen sollte er anrufen? Seinen Vorgesetzten – diesen versoffenen Bürokraten? Die Polizei? War der Tote wirklich einem Verbrechen zum Opfer gefallen und dann eingemauert worden, damit die Tat verborgen blieb, lag dieses Verbrechen Hunderte von Jahren zurück. Die archäologischen Behörden? Wer würde diese Sache mit der ihr angemessenen Sorgfalt behandeln? Wen musste er informieren? Wem konnte er vertrauen?
    Schließlich rief er mich an. Eigentlich eine Bagatelle, eine weiße, unbedeutende Schneeflocke, eine winzige Abweichung von den Ausgangsbedingungen. Ein kleiner, jämmerlicher Archäologe in einem engen Büro der Osloer Universität.
    Ich erinnere mich noch, dass ich höflich zuhörte, als Taras Koroljov sich vorstellte und von dem Fund berichtete. Seine Stimme hatte angenehm geklungen, Bariton. »Können Sie nach Kiew kommen, Mr. Beltø?«
    »Ich bin Archäologe, nicht Paläograf.«
    »Ihre Erfahrung mit alten Manuskripten spricht für Sie.«
    »Sie sollten einen Experten kontaktieren. Ich habe einen Freund in Island, ich kann Ihnen seine Nummer geben, er ist eine echte Koryphäe …«
    »Herr Beltø, es stimmt aber doch, dass Sie ein handschriftliches Evangelium von Jesus Christus gefunden haben?«
    »Das ist zehn Jahre her. Und streng genommen habe nicht ich es gefunden. Ich habe es nur in meine Obhut genommen.«
    »Und haben nicht Sie das Papyrusmanuskript des unbekannten sechsten Buches Mose entdeckt …?«
    »Das war ein Zufall, pures Glück!«
    »Und die Moses-Mumie?«
    »Wenn die mal nicht mich gefunden hat …«
    »Herr Beltø, Sie sind viel zu bescheiden. Ich habe über Sie gelesen. In den Zeitungen. In internationalen archäologischen Journalen. Darin stand, dass Sie auf weitere Handschriften gestoßen sind und dass Sie sehr hartnäckig sein können.«
    »Hartnäckig? Die meisten sehen in mir wohl eher einen störrischen, unverträglichen Esel.«
    »Sie sind der richtige Mann. Da bin ich mir sicher. Das spüre ich.«
    »Hören Sie, ich bin Dozent hier in Oslo, wissenschaftlicher Mitarbeiter, ich bin nicht einmal Professor.«
    »Würden Sie mir helfen?«
    »Es tut mir leid, Sie müssen sich jemand anderen suchen.«
    Ich war noch nie sehr prinzipienfest.
    3
    Die Mumie lag nackt auf einer Steinplatte in einer Zelle, die hinter einer Altarformation verborgen war. Erst in den letzten Jahren nach dem Fall des Kommunismus hatte man damit begonnen, die Leichen abzudecken.
    »Und die Behörden sind wirklich bereit, mir diese Handschrift zu überlassen?«, fragte ich.
    »Die interessieren sich nur für die Mumie, nicht für das Manuskript.« Der Konservator schnitt eine Grimasse, die der der Mumie zum Verwechseln ähnlich sah. »Meine Vorgesetzten streiten sich bereits heftig darum, in wessen Zuständigkeitsbereich die Mumie fällt und wer für die Forschungsarbeiten aufzukommen hat. Ausgehend von der Lage der Grabkammer und dem Alter des Altars vermuten wir, dass die Mumie älter ist als die des Chronisten St. Nestor, der 1114 hier in den Katakomben seine letzte Ruhestätte gefunden hat. Meine Vorgesetzten würden das Manuskript doch nur wie all die anderen nicht ausreichend untersuchten Texte ungelesen ins Archiv schaffen.«
    Er deutete auf die aufgerollte Handschrift, die sich der Tote auf die Brust drückte. »Ich habe das Manuskript durch einen anderen Text aus der gleichen Epoche ersetzt, den ich aus dem Archiv geholt habe.«
    4
    Die Originalpergamente lagen ausgebreitet auf einem Leuchttisch im Büro des Konservators. Jede Seite war in zwei symmetrische Spalten unterteilt, die an unsichtbaren, schnurgeraden Linien ausgerichtet waren.
    »Dieser Teil des Textes …«, Konservator Koroljov deutete auf die rechte Spalte, »ist in Zeichen verfasst, die ich noch nie gesehen habe, die linke Spalte ist in Keilschrift geschrieben. Die Schrift wurde vor fünftausend Jahren in Mesopotamien entwickelt und findet sich normalerweise auf den Steintafeln der Sumerer und Babylonier. Wir können davon ausgehen, dass es sich um eine Kopie
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher