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Das Luzifer Evangelium

Das Luzifer Evangelium

Titel: Das Luzifer Evangelium
Autoren: Tom Egeland
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ich als junger Mensch geglaubt hatte, etwas von meiner Großmutter geerbt zu haben, die vorgab, mit den Toten sprechen zu können. Diesen Irrglauben hatte ich aber längst hinter mir gelassen. Trotzdem, wenn ich an die Sekunden vor der noch geschlossenen Schafzimmertür zurückdenke, dann zweifle ich keine Sekunde daran, dass ich in diesem Moment bereits sicher wusste, dass Christian Keiser tot war. Die Erkenntnis ließ mich an die Warnungen des Unbekannten denken, der mich in der letzten Woche mehrfach angerufen hatte. Jemand, der von dem Manuskript wusste und der Englisch mit Akzent sprach. Ich hatte Christian davon erzählt, aber wir hatten beide keine Ahnung, um wen es sich handeln könnte. Ein Polizist aus der Ukraine? Ein Forscher aus dem Höhlenkloster, ein Kollege von Koroljov oder ein illegaler Sammler?
    Ich hämmerte so hart mit der Faust gegen die Tür, wie ich nur konnte.
    »Christian?«
    Legte die Hand auf die Klinke und öffnete einen Spaltbreit die Tür.

III : Der Ritualmord (1)
    Christian Keiser lag nackt auf einem gespannten Seidenlaken auf dem Bett, die Arme vor der Brust überkreuzt, die Augen tief in den Höhlen. Das Kinn war in einem Totenkopfgrinsen herabgesackt, der Körper kreideweiß und eingefallen. Sein Glied lag wie eine verschrumpelte Hautfalte in einem Nest aus grauer Stahlwolle.
    Überall im Schlafzimmer, auf dem Boden, auf den Abstellflächen, auf dem Fensterbrett, standen brennende Kerzen. Viele Kerzen. Unfassbar viele.
    Raum und Zeit lösten sich auf. Ich schnappte nach Luft und stand wie angewurzelt da. Gelähmt. Zu Eis erstarrt. Das Herz hämmerte in meiner Brust, in den Ohren, in meinem gesamten pulsierenden Netzwerk aus Adern, Arterien und Venen. Knie und Hände begannen zu zittern. Schweiß drang mir aus jeder Körperpore. Mein Gehirn verweigerte die Kommunikation mit dem Rest des Körpers. Mein Blick registrierte – distanziert, leidenschaftslos, beobachtend – alle möglichen Details. Das Sonnenlicht, das durch die Gardinen fiel. Die Pantoffeln am Fußende des Bettes. Das halb leere Wasserglas auf dem Nachtschrank. Das Pillenfläschchen. Das Buch. Die Kleider, die ordentlich zusammengefaltet auf dem Rollstuhl lagen. Zuoberst der Pyjama, ebenfalls zusammengefaltet. Die Kerzen. Die Leiche.
    Meiner Kehle entrang sich ein Wimmern.
    Mein Gott, Christian … was ist passiert?
    Sir Francis kam ins Zimmer getapst. Und machte auf der Stelle kehrt.
    Zögernd trat ich näher ans Bett heran. Meine Knie wollten mich kaum tragen. Wieder brach mir der kalte Schweiß aus. Ich wappnete mich gegen den Geruch. Seine Haut sah wächsern aus, blank. Aber er roch nicht. Noch nicht. Lange konnte er noch nicht tot sein. Unter dem süßlich schweren Duft von Weihrauch und schmelzendem Wachs nahm ich einen weiteren Geruch wahr – schärfer, metallisch –, den ich nicht einordnen konnte.
    Der Leichnam war so weiß. Der Tod hatte ihm jegliche Farbe genommen. Er war noch weißer als ich. Wie konnte der Tod einen so unfassbar bleich machen?
    Er war ermordet worden. Ganz offensichtlich. So starb man nicht. Nicht von eigener Hand. Nicht nackt, auf einem Bett, ohne Decke, die Arme über Kreuz und die Hände zu Fäusten geballt, umgeben von brennenden Kerzen. Die Art, wie er dalag, hatte etwas … ich suchte nach dem passenden Wort … Rituelles . Als wären der Beerdigungsunternehmer und der Pfarrer bereits hier gewesen und wieder aufgebrochen, um Leichenhemd und Weihwasser zu holen.
    Ich blieb etwa eine Minute stehen und betrachtete den entseelten Leichnam meines toten Freundes, bis er hinter einem Schleier aus Tränen verschwand. Ich schloss seine Augen, dann rief ich die Polizei.

IV: Der Schlüsselzeuge
    Curt Henrichsen – Curt mit C , Henrichsen mit ch – war ein stattlicher Ermittler mit Hornbrille im Haar, Notizblock in der Brusttasche und einem Blick, der die abgebrühtesten Verbrecher zusammenbrechen und all ihre Untaten gestehen ließ.
    Uniformierte und zivil gekleidete Ermittler wieselten in der Wohnung herum. Techniker in weißen Spezialoveralls watschelten wie Pinguine von Raum zu Raum. Ich selbst saß auf einem Stuhl im Wohnzimmer und dachte schon, die Polizisten hätten mich vergessen. Einer der Pinguine trat mir versehentlich auf den Fuß und entschuldigte sich geistesabwesend. Währenddessen lief Curt Henrichsen für sich allein durch die Wohnung, sah sich die Regale an, öffnete Schranktüren, schaute nach, auf welche Frequenz das Radio eingestellt war. Er war später als die anderen
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