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Das Luzifer Evangelium

Das Luzifer Evangelium

Titel: Das Luzifer Evangelium
Autoren: Tom Egeland
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begegnete ich noch einmal Oûäh in meinem Traum.
    Zuerst glaubte ich, wieder auf dem fremden Planeten zu sein. Aber als Oûäh auf mich zukam, wusste ich, dass wir hier waren. In der Wüste. Auf der Erde.
    Gïddô-dôm .
    Er lächelte. Jedenfalls bildete ich mir das ein. Schwer zu sagen. Sein Mund war nur eine vage Andeutung von Lippen. Er sah alles andere als menschlich aus. Trotzdem erahnte ich unter dem weiten Gewand etwas Menschliches – zwei Arme, zwei Beine, Hals und Kopf –, obwohl er unglaublich groß und extrem schmächtig war. Sein Kopf war schmal und länglich und lief oben spitz zu. Er hatte eine Glatze, nur oben auf der Spitze wuchs ein leichter Flaum und hinter der Andeutung seiner Ohren. Die Nase wirkte viel zu klein in dem langen Gesicht.
    Bjørn .
    Ich konnte seine Stimme nicht hören. Die Worte – oder seine Gedanken – tauchten einfach in meinem Kopf auf.
    Oûäh , antwortete ich.
    Er streckte seine knochige Hand aus und strich mir über den Kopf.
    Ihr seid bereit.
    Er lächelte. Glaubte ich. In dem blassen Blick ahnte ich einen Funken Wehmut. Im Traum spürte ich plötzlich eine Sehnsucht, dieses freundliche, ungelenke Wesen kennenzulernen, das vor so langer Zeit gestorben war.
    Stell dir vor, dies ist kein Traum, Bjørn.
    Kein Traum?
    Stell dir vor, die Träume verbinden unsere Gedanken kreuz und quer durch alles, was uns trennt: Zeit und Raum, Leben und Tod.
    Unsere Blicke begegneten sich. Ich konnte nicht sehen, welche Farbe seine Augen hatten. Ich streckte den Arm aus und berührte ihn. Seine Haut fühlte sich dick an. Rau. Schuppig. Uneben.
    Oûäh …
    Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Der Traum war bereits dabei zu verblassen. Verzweifelt versuchte ich, ihn festzuhalten, die Stimmung, die Sanftheit, die dieses wundersame Geschöpf verströmte.
    Stell dir vor …
    Und damit verschwand sein Bild.
    Ich schlug die Augen auf und versuchte, mir den Traum ins Gedächtnis zurückzurufen. Aber es ging nicht, er war fort.

Epilog

     
    Das war das Ende der Rede.
    DER PROPHET DANIEL, KAP. 7, VERS 28
    Das ist nicht das Ende, es ist auch nicht der Anfang vom Ende, aber vielleicht ist es das Ende des Anfangs.
    WINSTON CHURCHILL

BABYLON
2560 V. CHR.
     
    Heute Nacht werde ich sterben.
    Eine Gewissheit, keine Vermutung. Das Bedürfnis nach Stille. Die Erkenntnis … Meine Zeit hier auf der Erde ist vorbei . Ja, ja, ja … Fühlt er Bedauern? Allem voran fühlt er eine ungeduldige Sehnsucht. Das unerklärliche Gefühl, nach Hause zu wollen. Der Tod, denkt er, ist nur ein Übergang. Eine Veränderung.
    Stufe für Stufe hat er sich die steile Treppe zur Spitze des Tempelturms hochgearbeitet. Seine gichtgeplagten Gelenke schmerzen. Er bleibt stehen. Noch fünf Stufen. Sein Atem geht rasselnd und keuchend. Er ist erschöpft. Außer mir ist niemand mehr da, denkt er. Und heute Nacht bin endlich ich an der Reihe. Er holt tief Luft und geht weiter. Sein langer Körper schwankt. Er hält sich fest und sinkt auf den Thron, den sie für ihn gebaut haben. Er liebt es, hier oben auf der Spitze des Turms zu sitzen, den Blick gen Himmel gerichtet, über die Stadt und die Wüste. Drüben in der Stadt brennen Fackeln und Öllampen. Babylon … Wie lange ist das hier schon sein Zuhause? Viel zu lange.
    Seine Haut, grau, gerötet und rau, juckt und schuppt. Seit seiner Ankunft hier quälen ihn dieser Juckreiz und Ausschlag. Diese unerträgliche Wüstensonne! Er liebt die Nacht. Die Dunkelheit. Die sanften Brisen voller Gerüche. Über ihm, im Sternengewand, wölbt sich der Himmel. Er mag den Himmel. Vor vielen Jahren, als er die Stadt am Meer besucht hat, hat er dieselbe stille Freude empfunden, alleine am Strand zu sitzen und an den Horizont zu schauen. Alle Meere haben eine Küste. Der Himmel, denkt er, hat kein Ende. Aus der Stadt schallt Stimmengewirr herüber, ein Bellen, das Klimpern eines Saiteninstrumentes, der helle Ton einer Flöte. Der Geruch von Essen steigt ihm in die Nase – selbst nach all den Jahren tut er sich noch immer schwer mit den Speisen, die sie zu sich nehmen – und der süßliche Duft der Melonenfelder.
    Als die Feuer verloschen sind und die Stadt verstummt ist, humpelt er die Stufen hinunter in den Sockel des Tempelturms. Er schleppt sich zum Eingang. Dort bleibt er stehen. Ein letztes Mal blickt er über die Landschaft und die Stadt. Hinauf zum Sternenhimmel. Er füllt die Lungen mit Luft – der schrecklichen, trockenen Wüstenluft – und atmet langsam wieder aus.
    Die Schriften
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