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Das Luzifer Evangelium

Das Luzifer Evangelium

Titel: Das Luzifer Evangelium
Autoren: Tom Egeland
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ukrainischen Behörden dazu, dass ein ausländischer Forscher ein solches Manuskript außer Landes schafft?«
    Er sah mich an. Lange.
    »Nein«, sagte ich.
    »Verstehen Sie jetzt, warum ich Sie angerufen habe, Bjørn Beltø? Sie und niemanden sonst?«
    »Das können Sie nicht von mir verlangen!«
    »Ein Manuskript wie dieses muss unbedingt untersucht werden. Auf anständige Weise.«
    »Sie wollen, dass ich das Dokument aus der Ukraine schmuggele?«
    »Sie sind nicht wie die anderen. Sie sind ein Pragmatiker. Bürokratie und Formalitäten sind Ihnen nicht wichtig. Sie sind ein echter Forscher, Beltø. Sie sind neugierig, Sie wollen es wissen.«
    »Sie können mich doch nicht ernsthaft darum bitten, ein solches Dokument außer Landes zu bringen!«
    Doch das konnte er.
    Und ich tat es. Ich schmuggelte das Dokument aus der Ukraine.
    Das Schicksal ist wie ein aus Fäden geknüpftes Netz – manche sichtbar, andere unsichtbar –, die einander in einem Muster kreuzen, das wir oft erst erkennen, wenn es zu spät ist. Als ich mich auf dem Flughafen von Konservator Taras Koroljov verabschiedete, sah ich ihn zum letzten Mal.
    Wie die anderen, die ohne Vorwarnung in den Mahlstrom des Manuskripts gezogen wurden, wurde auch er einige Wochen später getötet.

II : Die Wohnung
    OSLO
22. MAI 2009
    Man ist nie darauf vorbereitet, eine Leiche zu finden. Wirklich nicht. Ich habe da eine gewisse Erfahrung.
    Das große Mietshaus im Zentrum der Stadt wirkte wie eine uneinnehmbare Felsenburg. Mit seinen Erkern, Türmchen und stilisierten Balkonen hätte es auch als Kulisse für einen Film über vergangene Zeiten dienen können. Die Wände aus rotem Granit und Ziegelsteinen waren von wildem Wein und Efeu überzogen. Grasbüschel und verblühte Tulpen rangen auf dem schmalen Streifen Grün zwischen der Jugendstilfassade und dem schmiedeeisernen Zaun, der die Allgemeinheit in sicherer Distanz auf dem Bürgersteig hielt, nach Luft.
    Das Treppenhaus ließ noch etwas von der alten Pracht erahnen, die brusthohe Vertäfelung aus edlen Hölzern, das Art-Nouveau-Geländer und die Deckenmalereien mit ihren pummeligen Cherubinen und flatternden Kinderengeln hauchten der Vergangenheit Leben ein. Wie ein alter Mann kämpfte ich mich die Treppe hoch. Der Flug hatte mich erschöpft, überdies musste ich meinen Koffer nach oben schleppen. Jeder Schritt hallte von den Wänden wider, wie in einem Film. Mein Gesicht spiegelte sich weiß in den blanken Wandfliesen. Kurzatmig blieb ich auf dem Treppenabsatz vor der doppelten Mahagonitür mit den Rauchglasscheiben stehen. Ich klingelte. Die Türglocke klang heiser, als wäre sie erkältet und brauchte einen Schal und eine Halspastille. Obgleich ich einen Schlüssel hatte und mir die Tür selbst aufschließen konnte, klingelte ich grundsätzlich bei Christian. Es war mir lieber so, ich wollte mich nicht aufdrängen.
    Ich kannte den Schriftsteller Christian Keiser mittlerweile achtzehn Jahre und hatte ihn in all den Jahren nicht ein einziges Mal abwertend über jemanden sprechen hören. Er war ein Mensch, den man einfach mögen musste, und auch seine äußere Erscheinung vergaß man nicht so schnell. Er war klapperdürr. Spitz und kantig wie ein Gespenst. Bevor das Unglück ihn in den Rollstuhl zwang, an den er sich nie wirklich gewöhnt hatte, hatte er weitaus größer gewirkt, als er war. Er trug Anzug und Fliege und im Frühling gerne eine frische Blume im Knopfloch. Seine buschigen, lebhaften Augenbrauen erinnerten an einen fehlplatzierten Schnurrbart. Er blinzelte unablässig – eine Marotte, die zu seinem Markenzeichen geworden war. Seine grauen Haare hatte er nach hinten gekämmt, was ihn wie einen gutmütigen Landpastor aussehen ließ.
    Ich blieb stehen und wartete. Gewöhnlich rief er mich herein. » Nimm doch den Schlüssel! Was meinst du eigentlich, warum ich dir den gegeben habe? « Aber heute hörte ich keinen Laut.
    Der Rollstuhlaufzug stand in der zweiten Etage. Er musste also zu Hause sein. Der Aufzug, der nach dem Unfall (ein unglückseliges Zusammentreffen eines rechthaberischen Straßenbahnchauffeurs und eines betrunkenen Autors auf dem Zebrastreifen) installiert worden war, hatte zu einigen Protesten und einer außerordentlichen Eigentümerversammlung geführt, bei der manch einer der Meinung gewesen war, Christian Keiser müsse nun ausziehen.
    Christian war Historiker und Verfasser zahlreicher populärwissenschaftlicher Bücher. In den letzten Jahren hatte sich keines seiner Bücher weniger
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