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Das Loch in der Schwarte

Das Loch in der Schwarte

Titel: Das Loch in der Schwarte
Autoren: Mikael Niemi
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raffiniertes Spinnennetz in seine Fadenrollen eingewickelt. Und doch unerreichbar. Tiefgefroren.
    Fjodor. Ein kleiner, wandernder Punkt. Diesem schwarzen Insekt gelingt es schließlich, die Psychose zu knacken. Fjodor scheint weder etwas zu essen noch zu trinken, was immer man ihm auch anbietet, trotzdem überlebt er Monat für Monat. Ruben beginnt lange Gespräche mit ihm zu führen. Aufmunternde Betrachtungen anzustellen. Über den Morgentau im hohen Gras. Silbernetze unter dem Gewicht von Wassertropfen. Sie sitzen beieinander und sehnen sich nach Hause. Und als Fjodor Zeichen der Schwäche zeigt, beginnt Ruben Worte des Trostes zu sprechen. Über Freundschaft, darüber, es zu wagen, sich jemandem anzuvertrauen. In den Armen eines Bruders zu ruhen.
    Eines frühen Morgens entdeckt Ruben, dass Fjodor verstorben ist. Er hat sich an den Rand des Plastikbechers gelegt, seine dünnen Spinnenbeine unter sich zusammengezogen und aufgehört zu atmen. Am Totenbett seines Freundes verspricht Ruben, beide zur Erde zurückzubringen. Sie werden zurückkehren, koste es, was es wolle. Fjodor soll nach Hause kommen.
    Ruben Stanislawski wird also einer der wenigen, denen es unter extremen Entbehrungen gelingt, zurückzukehren. Die meisten Abenteurer verschwinden dort draußen. Das Schicksal ist von Anfang an gegen sie. Wie hermetisch geschlossen ein Schiff auch ist, wie effektiv alle Wiedergewinnungsprozesse auch arbeiten, so gibt es doch immer irgendwo ein kleines Leck, einen wenn auch geringen Schwund. Im Laufe der Jahre gehen die Sonnensegel kaputt, das Gewächshaus funktioniert immer schlechter, die Essensproduktion wird geringer, und die Effektivität der Brennstoffzellen nimmt ab. Als Rubens herumirrendes Geisterschiff von einer der Raumstationen eingefangen wird, sind Luftdruck und Sauerstoffgehalt in seinem Inneren vergleichbar mit den Zuständen auf dem Mount Everest. Er selbst ist mager wie eine Leiche, grau von eingefressenem Schmutz. Die Haut ist blaulila von den vielen geplatzten Adern und der Gestank so unerträglich, dass die Krankenschwestern Gasmasken aufsetzen müssen. Aber seine Hand umklammert immer noch den Becher mit Fjodors zusammengerollter Leiche.
    Ruben wurde auf einer Bahre festgeschnallt zur Raumstation gebracht. Der Sauerstoffgehalt wurde erhöht, der Druck plötzlich wieder normal. Die Lungen füllten sich, er hustete, das Pflegepersonal sah, wie seine Haut eine frischere Farbe annahm. Und im gleichen Moment erwachte auch Fjodor. Er wurde wieder lebendig, streckte seine langen Beine und krabbelte aus dem Becher. Anschließend verschwand er spurlos. Rubens Retter und Freund wurde nie wiedergefunden, niemand weiß, wie Fjodor schließlich endete. Vielleicht kletterte er in ein anderes Schiff im Hangar und wurde in den Weltraum in irgendein anderes Sonnensystem geschossen. Vielleicht legte er sich in irgendeinem intragalaktischen Gefrierlabor zur Ruhe, um in sechstausend Jahren in einem vollkommen anderen Teil des Universums aufgetaut zu werden. Wir werden es niemals erfahren.
    Weil das Weltall so unwirtlich ist, muss man, wie bereits früher angemerkt, alles mit sich nehmen, was zum Überleben notwendig ist. Luft. Wasser. Nahrung und Wärme. Wenn nur eine dieser Nabelschnüre reißt, ist man des Todes. Vor der Abfahrt berechnen die Raumfahrer deshalb äußerst genau, wie lange ein Schiff ohne neue Ladung am Leben erhalten werden kann. Die Schlechtesten schaffen es nur ein paar Monate lang. Die meisten liegen irgendwo so zwischen vier und neun Jahren. Davon ausgehend kann man seinen Ponor ausrechnen. Ponor, das ist ein Wort, das jedem Weltallromantiker einen Schauer über den Rücken laufen lässt, das reinste Mantra für alle Pissetrinker.
    Ponor ist eine Abkürzung für das englische Point of No Return. Dieser Punkt ist entscheidend, der definitive Abschied von der Erde. Nimm einmal an, dass deine Schrottkiste unter optimalen Bedingungen dich laut Berechnung acht Jahre lang am Leben erhalten kann. Dann passierst du den Ponor vier Jahre nach Abflug. In diesem Augenblick hast du deine absolut allerletzte Chance, mit heiler Haut zurückzukommen, vier Jahre hin und vier Jahre wieder zurück, so einfach ist die Mathematik. Ponor. Der Punkt, bei dem jeder Abenteurer eine Gänsehaut kriegt.
    »Wenn man sich seinem Ponor nähert, dann spürt man, wie einem die Haare an den Armen zu Berge stehen und wie das Herz in der Brust hämmert, es ist, wie sich einem Abgrund zu nähern, die letzten Warnschilder
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