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Das Loch in der Schwarte

Das Loch in der Schwarte

Titel: Das Loch in der Schwarte
Autoren: Mikael Niemi
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kenianischen Savannen, des Lebens auf dem Boden skandinavischer Gebirgsseen, Londons komplettem U-Bahnnetz, der Fötusentwicklung bei Delfinen, der Entwicklung der Trockenbatterie, des SARS-Virus, roter Riesen und der Anatomie der Stechmücke im Querschnitt.
    Und jetzt war alles weg. Es war, als wäre sein gesamter Heimatplanet ausgelöscht. Die Erde war vernichtet. Alle Menschen, die ihm begegnet waren, alle menschlichen Gedanken, die gedacht und geschrieben worden waren, dieser gesamte schöne Himmelskörper mit seinen Inlandseisflächen, den Weltkriegen, den Schönheitswettbewerben und den asiatischen Gewürzen. All seine Computerspiele, von Mahjong über Backgammon bis zum Arkadenspiel und den Tetrisvarianten, all diese kleinen Zeitvertreibe und Ablenkungen, auf die Menschen kommen können. Sicher, man könnte auch ohne sie leben. Oder macht man sich da was vor?
    Ruben beschreibt, wie er stückweise dem Menschlichen entgleitet. Zuerst kommt der Mangel. Die Leere. Anschließend die Frustration. Wutausbrüche. Die sich steigernde Depression. Die Einsamkeit.
    »Die Abnutzung des Auges«, so schreibt er, »jeden Tag den gleichen Drehstuhl zu sehen, den gleichen Essnapf und die gleiche Kleidung, das gleiche starrende Spiegelgesicht.«
    Eines Tages scheint die Netzhaut durchgescheuert zu sein. Er wird eines intensiven Oranges im Augenwinkel gewahr. Dann hört er die Stimme einer alten Frau. Sie überschüttet ihn mit Schuldzuweisungen. Sie will ihn stürzen. Bald ist auch eine Männerstimme in der Kabine zu hören. Beide Stimmen beginnen miteinander zu schimpfen. Stundenlang geht das so, endlose Schimpftiraden und Vorwürfe. Die Farbe Türkis wird sichtbar, wie Tundraeis. Runde Schweißflecken treten an den Wänden hervor. Zuerst glaubt er, es handle sich um Bakterien. Dann sieht er, dass es Texte sind. Über Stunden studiert er sie und versucht die Botschaft zu deuten. Es geht um sein Leben. Darum, was er alles falsch gemacht hat, um alles, das sich nicht mehr ändern lässt. Zwischen den Panikattacken hat er vollkommen abgeklärte, stabile Perioden.
    »Ich gehe zum Teufel«, denkt er. »Nicht mehr lange, dann blute ich aus den Handflächen.«
    Das folgende Kapitel hat dem Buch seinen Titel gegeben.
    Es gehört zum Stärksten, was ich über den geistigen Kampf eines Menschen gelesen habe, mit herausgekotzten Bekenntnissen, Strafpredigten, russischer Sexpein und schrecklichen Teufelsszenen samt vernichtender Lichtfolter, ganz zu schweigen von dem letzten Flüstern Christi, dem absolut letzten, das einzig und allein Ruben am Fuße des Kreuzes wahrnahm und das die gesamte Christenheit verändern sollte, diese letzten drei Worte, die da lauten …
    Nein, warum soll ich dein Leseerlebnis zerstören? Ruben Stanislawskis Buch ist märchenhaft, grausam, selbstzerstörerisch, es knistert wie eine Scheibengalaxis. Es geschieht selten, dass ein Buch ein Leben verändert, doch zumindest ich wurde von ihm in meinen Grundfesten erschüttert. Es hat kathartische Wirkung, es zu lesen. Oder, wie die New York Times schreibt: Eine Finsternis, die die Seele poliert.
    Eines Tages, mitten in einer schuldbeladenen Diskussion mit einer Schar sturer, widerspenstiger Plastiklöffel, entdeckt er plötzlich einen schwarzen Punkt an der Decke. Er bewegt sich. Die Bewegung ist irgendwie altmodisch, animalisch, um nicht zu sagen: irdisch. Die Plastiklöffel verstummen widerstrebend. Ruben klettert auf das Navigationspult und findet heraus, dass es sich um eine kleine Spinne handelt. Vorsichtig fängt er sie in einem Becher ein. Sie krabbelt darin herum, versucht einen Ausweg zu finden. Immer wieder schaut er sie an, unsicher, ob es nicht vielleicht eine Sinnestäuschung ist. Aber sie verschwindet nicht. Die ganze Situation ist so unglaublich. Schließlich ist es Jahre her, seit er die Erde verlassen hat, und die ganze Zeit muss dieser Passagier irgendwo gewesen sein. Er muss in einer Spalte im Koma, im Winterschlaf gelegen haben. Ein schlafender Verwandter.
    Er tauft die Spinne Fjodor. Nach seinem Lieblingsschriftsteller Dostojewski, der ebenfalls viele Male durch seine Epilepsie im Koma gelegen hat. Ach, diese Romane, die sich auf der Festplatte seines Spielcomputers befunden haben: Schuld und Sühne, Aufzeichnungen aus einem Kellerloch, Die Brüder Karamasow. Die Bücher gab es immer noch irgendwo dort drinnen, die Texte waren in elektrochemischen Strukturen in Siliziumkreisen gelagert, jedes einzelne Wort, jedes Kapitel lag dort wie ein kleines,
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