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Das Loch in der Schwarte

Das Loch in der Schwarte

Titel: Das Loch in der Schwarte
Autoren: Mikael Niemi
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goldgelb mit roten Streifen und groß wie ein Schneeball, er traf sie schräg von unten und ließ sie Hals über Kopfüber den Putzwagen fallen. Während eines äußerst verwirrenden Gesprächs bat er sie, in der nächsten Zeit den Kopf zu schützen, beispielsweise mit einem Fahrradhelm. Sie bat ihn daraufhin, zur Hölle zu fahren.
    Ein paar Monate später wurde der angeschwollene Gehirntumor entdeckt, der mittlerweile inoperabel war. Sie wurde umgehend krankgeschrieben und kam nie zurück.
    Es war offensichtlich. Mit Nilsons Hilfe konnte Öyvind in die Zukunft schauen. Wobei die Zeit übrigens ganz und gar nicht geradeaus voranschritt, sie war ein Teller, den man drehen konnte. Nilson konnte problemlos darauf herumspazieren, wie er wollte, während sich Öyvind sozusagen an seinem Rücken fest klammerte. Es ging nur darum, während so einer Reise die Augen offen zu halten. Einiges war nebulös, anderes deutlicher. Die Zeit war immer dieselbe, doch der Winkel war unterschiedlich, die Bergspitzen glitten auseinander, und neue Täler zeigten sich im Nebel.
    Pergament 7:
    Für die Menschen ist die Zeit ein Pfeil. Wir müssen dem Pfeil nach vorn folgen, wir sehen nur das kleine Kreuz der Steuerungsfedern vor uns in Augenhöhe. Nilson dagegen sieht die Zeit von der Seite her. Sein gesamtes Universum kreuzt unseres von der
    Seite her, von seiner Richtung aus sieht die Pfeilbahn deshalb wie eine Schnur aus. Jeder Mensch hat seine eigene Leine, seine eigene Wäscheleine, auf der ein wenig von jedem baumelt. Millionen von Menschen werden somit zu Millionen von Wäscheleinen, die Seite an Seite eine Art riesiges Feld mit den ausgespannten Lebensbahnen aller Menschen bilden. Ein Fußballfeld, voll gestopft mit Zeit. Ungefähr wie bei der Eröffnung der Olympischen Spiele, bei der alle Teilnehmerländer in Reih und Glied aufmarschiert dastehen, mit kunterbunten Nationalflaggen und Standarten.
    Das Ganze scheint aber etwas komplizierter zu sein. Ein Fußballfeld ist rechteckig, während Nilson die Zeit eher als eine kreisende, gigantische LP-Scheibe zu sehen scheint. Die Zeit krümmt sich, die Wäscheleine biegt sich in Spiralen zu einem immer dichter werdenden Zentrum hin, und das menschliche Jetzt würde dann der federleichten, die Platte streifenden Nadelspitze des Tonabnehmers entsprechen.
    Nun ja. Er hatte so seine Mühe mit den Gleichnissen, der gute Öyvind. Pfeil und Nadelspitze, Wäscheleine und LP-Scheibe. Aber es blieb die Tatsache, dass er nunmehr, ob er nun wollte oder nicht, einen absolut zuverlässigen Propheten abgeben konnte. Eine Prophezeiung nach der anderen traf ein. Von der kleinsten bis zur weltumfassendsten. Das Problem war nur das mit den Winkeln. Es gelang ihm nicht, sie in menschliche Uhrzeit zu übersetzen, und deshalb wusste er nie genau, wann die Visionen eintreffen würden. Vielleicht am nächsten Tag, vielleicht erst in einem Monat. Vielleicht auch erst in zehn Jahren. Außerdem waren die Gesichte nicht genau, fotografisch, sie hatten eher den Charakter wogender Unterwasserlandschaften. Sie konnten an Traume erinnern, davongleiten. Er versuchte auch das mit Nilson zu besprechen:
    »Ist alles schon passiert, Nilson?«
    »Erkläre das deutlicher.«
    »Ist die Zeit bereits fertig? Ist sie abschließend geformt?«
    »Ja.«
    »Dann haben wir also keinen eigenen freien Willen, wir folgen nur dem Schicksal?«
    »Natürlich haben wir einen freien Willen.«
    »Aber wenn alles bereits vorherbestimmt ist…«
    »Du hast doch Winkel, mein Freund. Du wanderst hier und dorthin. Die Zeit kannst du nicht ändern, aber die Winkel.«
    »Und wie?«
    »Natürlich indem du lebst.«
    »Hmmm …«
    »Hör auf, dich selbst zu bemitleiden.«
    Nilsons Übergewicht egalisierte sich jedoch bald auf ganz verblüffende Art und Weise. Eines Abends stand Öyvind in der Küche und schälte Kartoffeln aus seiner Ferienhütte, als er zum ersten Mal bemerkte, dass Nilson zusah.
    »Jetzt nehme ich die große Kartoffel«, dachte Öyvind.
    Und dann schälte er die große Kartoffel.
    »Jetzt nehme ich die längliche Kartoffel am Rand.«
    Und dann schälte er die längliche Kartoffel.
    »Jetzt schneide ich alle Kartoffeln mit dem Küchenmesser in dünne Scheiben.«
    »Jetzt lasse ich einen Klecks Butter in der Bratpfanne schmelzen.«
    »Sie schmilzt!«, rief Nilson.
    »Jetzt schiebe ich die Kartoffelscheiben hinein, dass sie aufzischen.«
    »Woher… woher wusstest du, dass sie zischen werden?«
    »Jetzt rühre ich mit dem Kochlöffel
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