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Das Loch in der Schwarte

Das Loch in der Schwarte

Titel: Das Loch in der Schwarte
Autoren: Mikael Niemi
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geöffnet, und vier der tiefen Teller waren im Raum ausgestellt. Als er sie zusammensammeln wollte, entdeckte er, dass sie alle Kartoffeln enthielten. Im ersten lagen zwei. Im zweiten vier. Acht. Und sechzehn.
    Jemand war mit seinem Körper herumgelaufen. Hatte ihn benutzt, während er schlief. Der Schnaps, dachte er. Vielleicht war es nur der Schnaps gewesen. Er legte die Kartoffeln zurück in den Eimer. Dann schloss er die Augen. Blieb ganz still stehen, angestrengt lauschend, die Hände auf die dicke Platte des Klapptischs gestützt.
    »Hallo«, sagte er dann.
    Es blieb still.
    »Hallo«, wiederholte er. »Ich weiß, dass du da bist.«
    Da löste sich ein Licht im Augenwinkel. Es sah aus wie ein Haufen hauchdünner Blasen.
    »Was machst du da?«, flüsterte eine wütende Stimme. »Warum rennst du in meinem Leben herum?«
    Das Herbstsemester in der Wargentinsschule in Östersund wurde anstrengend für Öyvind. Tagsüber unterrichtete er lethargische Gymnasiasten in Logarithmusfunktionen und Gleichungen dritten Grades, doch sobald er allein war, versuchte er seinen inneren Fremdling kennen zu lernen. Das war nicht ganz einfach. Die Stimme, die er hörte, war eigentlich keine Stimme, sondern eher ein Gefühl. Sie kam von der Seite, genau wie der Lichtschimmer. Drehte er den Kopf dorthin, verschwand sie. Physikalische Gesetze galten für dieses Phänomen offenbar nicht, man konnte es nicht messen oder abwägen. Ihm nur lauschen mit der Außenseite einer Schulter. Irgendwie rechtwinklig.
    Zunächst wollte der Fremde seinen Namen nicht verraten. Aber schließlich sagte er doch, dass er Ny-So hieß. Vielleicht auch Ni-Xoh. Manchmal klang es fast wie Nilson. Irritierenderweise beharrte Nilson darauf, dass Öyvind derjenige gewesen sei, der sich in ihm verhakt habe. Öyvind sei derjenige, der verschwinden müsse, nicht umgekehrt. Irgendwie waren sie ineinander verhakelt, und jetzt konnten sie nicht mehr voneinander los kommen.
    Aufgrund seiner naturwissenschaftlich geschulten Gedankengänge ahnte Öyvind, dass er geisteskrank geworden war. Er hatte Schilderungen davon gelesen. So ging das zu, man fing an, Stimmen zu hören. Dann bekam man Angst vor Strahlungen und verklebte die Fenster mit Aluminiumfolie. Psychose, dachte er. Oder Stress. Vielleicht bin ich einfach überarbeitet. Mehrmals überlegte er, zum Arzt zu gehen, aber der würde ihn nur weiter an einen Psychiater überweisen. Dann würde er Benzodiazepine schlucken müssen.
    Oder aber dasitzen und über seine Gefühle reden, wie bei der missglückten Familienberatung vor der Scheidung.
    »Was fühlst du jetzt im Augenblick, Öyvind? Versuche deiner Frau in die Augen zu sehen. Sie merkt nicht, dass du ihr zuhörst. Sie will, dass ihr miteinander kommuniziert, Öyvind.«
    Nilson tauchte in unregelmäßigen Abständen auf, doch mit der Zeit konnte Öyvind ein Muster erkennen. In der Schule hielt sich Nilson meistens raus, in den Klassenräumen war er fast nie zu hören. Ganz anders auf dem Weg nach Hause. Oder wenn Öyvind duschte. Oder wenn er unkonzentriert Fernsehen guckte, in den Sessel versunken, und sich müde fühlte. Es schien, als verdrängten Gedanken und Aktivitäten Nilson, während er seinen Platz einnahm, sobald man sich entspannte.
    Bei so einer Gelegenheit hatte Öyvind schließlich genug davon. Er hatte soeben einen ausgiebigen Eintopf gegessen und lag jetzt dösend auf seinem Schlafsofa. Das Doppelbett hatte die Ehefrau mitgenommen, da sie bereits ein neues Verhältnis hatte. Einen Rundfunkreporter von P4. Sicher redete er die ganze Zeit, wenn sie sich liebten. Sie hatte von Öyvind gefordert, er solle grobe Worte dabei zu ihr sagen:
    »Jetzt werde ich dich festnageln« und Ähnliches. Öyvind war ein wenig empört darüber gewesen. Oder eher verschämt, es hatte sich wohl in erster Linie um Scham gehandelt.
    Jetzt lag er da und spürte, wie der fette, sahnige Eintopf Sanftheit und Schläfrigkeit über den Darmkanal ausstrahlte. Und mitten in dieser Entspanntheit begann Nilson herumzunerven:
    »Hau ab«, meckerte Nilson ein ums andere Mal. »Hau ab, hau ab, hau ab …«
    Öyvind schloss gähnend die Augen. Aber die Stimme nervte weiter:
    »Geh weg von mir, geh weg von mir, geh weg von mir, geh weg von mir, geh weg von mir, geh weg von mir, geh weg von mir…«
    Und da, von diesem entnervenden Gebrummel ge
    stört auf der Schwelle zum Schlaf, da reichte es Öyvind.
    »Jetzt halt endlich verdammt noch mal die Klappe!«, schrie er.
    Aber es war kein
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