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Das Loch in der Schwarte

Das Loch in der Schwarte

Titel: Das Loch in der Schwarte
Autoren: Mikael Niemi
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Badewanne, fließt dann Wasser auf den Boden?«
    Nilson verstand die Fragen nicht. Wie sehr sie auch definierten und analysierten, so konnten sie einander doch nicht begreifen.
    »Aber Nilson, wenn ich frage: Wie lange geht unser Gespräch jetzt schon?«
    »Was?«
    »Wie viel Zeit ist verstrichen, seit wir unser Gespräch angefangen haben?«
    Nilson schien eine Weile nachzudenken.
    »Wie lange Zeit?«
    »Ja, genau, wie lange Zeit, Nilson?«
    »Warte, ich werde nachschauen … Ungefähr drei Winkel. Drei.«
    Öyvind schaute auf seine Uhr.
    »Fünfundvierzig Minuten«, las er ab. »Dann entspricht also ein Winkel ungefähr fünfzehn Minuten. Sind wir da einer Meinung?«
    »Ja, sicher«, sagte Nilson.
    »Gestern haben wir drei und eine halbe Stunde miteinander geredet. Das sind dann also vierzehn Winkel.«
    »Warte, ich werde nachsehen… Nein, das sind nur zwei Winkel.«
    »Vierzehn, Nilson.«
    »Nein, zwei jeweils. Und jetzt sind auch zwei Winkel vergangen.«
    »Aber du hast doch gerade gesagt, es sind drei.«
    »Von dort sah man drei Winkel. Aber von hier sind nur zwei zu sehen. Soll ich zurückgehen und es überprüfen?«
    »Mach das.«
    Mehrere Minuten vergingen.
    »Nilson? Nilson?«
    »Da ist ein Winkel, der einem die Sicht nimmt. Deshalb sieht man von hier aus nur zwei.«
    »Wo um alles in der Welt warst du, Nilson? Jetzt eben?«
    »Ich bin immer hier. Aber du bist nicht gekommen, Öyvind.«
    »Man kann nicht in der Zeit zurückgehen.«
    »Was meinst du damit?«
    »Ich glaube, das müssen wir analysieren, Nilson.«
    Aus Pergament 5:
    Durchbruch. Nilson existiert auf einer Art Teller. Einer Scheibe, die sich offenbar drehen kann. Auf jeden Fall kann er sie verdrehen. Alles, was geschehen ist, wird dadurch in ein Jetzt verwandelt, letzt und jetzt und jetzt. Aus unterschiedlichen Winkeln heraus. Ich glaube, er lebt in einer anderen Dimension als wir. Vielleicht in der fünften, der sechsten oder siebten? Die einzige gemeinsame Dimension, die wir haben, das ist die vierte. Die Zeit. Aber die sieht in unseren beiden Welten jeweils anders aus.
    Später in Pergament 5:
    Nilson muss in einem anderen Universum leben als wir. Er begreift nicht das Geringste von Materie. Wir scheinen einander von der Seite her zu sehen, was interessant ist. Man stelle sich vor, dass wir jeweils unserem Universum angehören, das durch das jeweils andere hindurchgleitet, wie zwei Verkehrsströme an einer Kreuzung. Wir können uns nur aus dem Augenwinkel heraus erahnen. Meistens fließt der Verkehr ohne Problem, wir passieren die Kreuzung, ohne zu stören. Aber ab und zu, sehr, sehr selten, geht da ein Mensch genau zu dem Zeitpunkt, an dem Nilson oder seine Freunde in der Zeit gehen, und dann Peng! prallen wir aufeinander. Und dann kann es vorkommen, dass wir uns ineinander verhaken.
    Pergament 6:
    Ich bat Nilson, nach vorn zu gehen. Nur einen halben Winkel weit oder so. Er sagte, dass er bereits dort sei. Worauf ich die Augen schloss und versuchte, mich bewusst leer zu machen. Bekam ein starkes Empfinden säuerlicher Gerüche. Gurke, Zimt. Es stach im linken Ringfinger. Unangenehm.
    Pergament 6 , am folgenden Morgen:
    Am Abend kam Ann Sejdemo, die Philosophievertretung. Sie sagte, sie wolle mir für meine Hilfe bei der Anwesenheitsliste danken. Sie hatte einen orientalischen Salat und eine Flasche Wein dabei. Der Salat duftete nach Gurke und Zimt. Beim Öffnen der Weinflasche stieß ich ein Glas zu Boden. Ich hob die Scherben auf und schnitt mich in den linken Ringfinger, ganz vorne an der Fingerspitze, wo es besonders wehtut. Es pocht immer noch. Mir ist ganz schwindlig. Aber nicht vom Schmerz. Auch nicht von Anns sanfter Berührung, als sie mich vorsichtig mit einem Pflaster versorgte. Sondern von der Einsicht. Ein halber Winkel. Ich glaube tatsächlich, es funktioniert…
    In den nächsten Wochen wiederholte Öyvind das Experiment mehrere Male. Einmal gelang es ihm zu spüren, wie ein kräftiger Herbstwind eine morsche Hängebirke über das Auto des Nachbarn fallen ließ, das auf der Straße parkte. Öyvind versuchte den Nachbarn dazu zu überreden, seinen Wagen vor dem Sturm woanders hinzustellen, doch der sah den Ernst der Lage nicht ein. Das Autodach wurde eingedrückt, genau wie in der Vision. Ein anderes Mal sah Öyvind, wie die Gemeindeschwester Segerlind, eine mürrische Finnlandschwedin mit Raucherhusten und abgetretenen Holzpantoffeln, von einem Butterklumpen am Kopf getroffen wurde. Dieser Anblick verblüffte ihn, der Klumpen war
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