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Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition)

Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition)

Titel: Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition)
Autoren: Gisa Klönne
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aber meine Mutter … sie hatte diesen Unfall, mit einem Ihrer Fahrzeuge. Dorothea Hinrichs …«
    »Oh.« Ihr Lächeln veränderte sich, ihr Blick floh zum Monitor ihres Computers.
    ›N. Müller – Filialmanagerin‹ stand auf dem Namensschild an ihrer Bluse. Nina, Nathalie, Nadine, Nora? Nora schien aus irgendeinem Grund nicht zu passen, aber was wusste ich schon.
    »Diese schreckliche Sache, das hat … meine Kollegin hat diesen Vorgang bearbeitet, aber sie ist gerade in die Pause …«
    Sie brach ab und ließ ihren Blick durch die Halle schweifen. Eine schreckliche Sache. Ein Vorgang. Was machte ich hier, was wollte ich von dieser jungen Frau wissen? Sie konnte mir nichts über meine Mutter sagen. Sie schaffte es ja nicht einmal, mich anzusehen.
    Hinter mir räusperte sich ein Mann. Der nächste Kunde für den nächsten Vorgang. Zwei weitere Männer in dunklen Anzügen trabten herbei, hektisch auf ihren Smartphones herumtippend.
    »Einen Moment bitte!« N. Müller schien zu einem Entschluss zu kommen. Sie sprang auf und klappte einen Teil der Theke hoch, sodass ein Durchgang entstand. »Kommen Sie doch bitte durch, Frau Hinrichs.«
    Frau Hinrichs – diese Anrede galt jetzt nur noch mir. Mir und der Frau, die mein Vater zwei Jahre nach Ivos Tod geheiratet hatte. Eine jüngere, glücklichere Frau, die ihm zwei neue, lustige Kinder geschenkt hatte – seine neue Familie, seine zweite Chance.
    »Frau Hinrichs?« Etwas in N. Müllers Stimme war verändert, und als ich mich immer noch nicht rührte, kam sie hinter ihrem Tresen hervor, nahm meine Tasche und lotste mich in einen winzigen Büroraum neben der Verkaufstheke.
    »Setzen Sie sich, bitte. Trinken Sie.« Aus einer Thermoskanne schenkte sie Kaffee in einen Henkelbecher, stellte ihn zusammen mit Milchportionsdöschen, Zucker und einer Schale Gummibärchen vor mich auf den Tisch.
    »Danke, aber ich …«
    Wer haftete eigentlich für einen Unfall, wenn dessen Verursacher tot war? Die Autoversicherung? Die Angehörigen? Würden die Hinterbliebenen des toten Ehepaars Alex und mich verklagen? War das rechtlich möglich? Eltern haften für ihre Kinder. Und die Kinder, was ist mit ihnen, haften sie später auch für ihre Eltern?
    »Die Gummibärchen sind Vanessas, sie ist süchtig danach, aber sie hat bestimmt nichts dagegen. Sie kommt gleich, versprochen, sie ist nur schnell eine rauchen. Es tut mir sehr leid, aber ich muss wieder nach vorn.«
    Die Autovermieterin drückte meine Schulter und hastete zurück zu ihren Kunden. Es war ein Fehler gewesen, hierher zu kommen. Aber jetzt war es zu spät, wieder abzuhauen, und was sollte es auch bringen? Die Polizei kannte meinen Namen, ich war hier in Deutschland, es hatte keinen Sinn, mich zu verstecken.
    Auf dem Henkelbecher stand NANCY. Darunter feixte eine Maus mit Boxhandschuhen ›Der Chef hat immer recht, denn der Chef bin ich!‹. Nancy Müller. Filialmanagerin. Ich stellte mir ihre Eltern vor, irgendwo in der DDR in den Achtzigern, kurz vor der Wende. Wie sie glaubten, sie könnten diesem Regime, das sie zum Schutz vor den bösen Kapitalisten hinter einer mit Tretminen und Selbstschussanlagen gesicherten Grenze einsperrte, mit ihrer Namenswahl ein Schnippchen schlagen. Sie wünschten das Beste für ihre Tochter, einen Hauch weite Welt, aber dass diese einmal als Managerin einer Autovermietung am Flughafen Tegel arbeiten würde, lag sicherlich weit jenseits ihrer Vorstellungskraft. Ein Staat, ein ganzes Land, einfach abgewickelt. Nur noch in Erinnerungen existent.
    Von Köln aus betrachtet war diese DDR schon vor der Wende eher Fiktion als Realität gewesen, unendlich weit weg, exotischer als die Karibik, das merkten Ivo, Alex und ich, wenn wir auf dem Schulhof von unseren Ferien dort erzählen wollten und bald wieder aufgaben, weil unsere Mitschüler und Freunde uns nicht verstanden. Und wir selbst verstanden ja letztendlich auch nicht, wieso dieses Land hinter dem Stacheldrahtzaun so vollkommen anders und dennoch unlösbar mit uns verbunden war. Wir wussten nur, dass die Menschen dort deutsch sprachen, genau wie wir, und dass einige dieser Menschen unsere Verwandten waren.
    Entschleunigung. Damals, als wir unsere Ferien in der DDR verbrachten, war dieses Wort noch nicht in Mode. Es gab auch noch keine hyperaktiven Kinder mit ADHS-Syndrom und keine Burn-out-Patienten, oder wenn doch, dann wurden sie nicht so bezeichnet. Doch Entschleunigung war genau das, was wir in den Ferien in Poserin erlebten. Das Telefon im
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