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Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition)

Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition)

Titel: Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition)
Autoren: Gisa Klönne
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und wenigstens Alex anrufen. Alex, der laut Aussage des Polizisten, mit dem ich telefoniert hatte, offenbar weder zu Hause noch an seiner Uni zu erreichen war.
    Ihr Bruder Alexander lebt in Australien, richtig? Sie sind ja eine weit verstreute Familie.
    Weit verstreut. Nicht mehr existent. Zerstört an einem Januartag vor zwölf Jahren. Bis dahin waren meine Eltern noch verheiratet gewesen, auch Alex lebte noch in Deutschland, und er war es auch, der mir die Nachricht von Ivos Tod überbrachte, unsere Eltern waren dazu nicht in der Lage. Wo würde Ivo heute sein, wenn er noch lebte? Immer noch in Berlin, wie damals? Wahrscheinlich nicht, er hatte bereits erste Kontakte nach New York geknüpft. Vielleicht hätte es ihn auch nach Tokio oder Moskau oder Sydney verschlagen. Das junge Genie, der Autodidakt, der Rebell unter Deutschlands aufstrebenden Künstlern. Er hatte das Leben auskosten wollen, ohne Kompromisse.
    Eine rotierende Glastür schaufelte Eisluft in den Ausgangsbereich, draußen warteten Taxis. Ich blieb stehen, immer noch unschlüssig. Wohin sollte ich fahren? Menschen in Schals, Mützen und Mänteln hasteten an mir vorbei. Ich versuchte mir meine Mutter als eine von ihnen vorzustellen und schaffte es nicht. Wie war sie auf die Idee gekommen, gerade hier am Flughafen ein Auto zu mieten, sie, die seit Jahren nicht mehr gereist war, kaum Kontakte pflegte und jedes Mal nervös wurde, wenn zu viele Menschen zu dicht beieinander waren? Ich wandte den Taxis den Rücken zu und folgte dem Hinweisschild zu den Autovermietungen. Sie waren in einem Nebengebäude untergebracht; als ich nach draußen trat, sprang mich die Kälte an. Ich begann zu rennen, stolperte, fing mich wieder. Meine Füße fühlten sich taub an. Das Extrapaar Socken wärmte nicht, sondern quetschte meine Zehen ein. Türkisgrüne Plateaustiefel aus Nappaleder mit Zehn-Zentimeter-Absatz – die wärmsten Schuhe, die ich auf der Marina dabei hatte. Nicht zum Laufen geschaffen, sondern für die Bühne.
    Es gab mehrere Autovermietungen, natürlich, eine lange Reihe knallbunter Theken, und alle versprachen Hammer-, Super- und Schnäppchentarife. Ich blieb stehen, um mich umzusehen. Dauerlächelnde junge Männer und Frauen in farblich zum Logo ihrer Arbeitgeber passender Kleidung kümmerten sich um die Bedürfnisse ihrer fast ausnahmslos männlichen Kunden. Einen Moment erschien es mir tatsächlich möglich, dass meine Mutter hier gewesen war, in ihren alten, aber tadellos polierten Stiefeln und dem schwarzen Persianermantel mit den abgeschabten Ärmeln, den sie in jedem Winter getreulich hervorholte. Ihr Haar, das sie seit Ivos Tod nicht mehr färbte, hätte sie zu einem straffen Knoten gezurrt. Sie hätte keine Mütze getragen, um diese Frisur nicht in Unordnung zu bringen, und sich sehr gerade gehalten, die Finger eisern um den Griff ihrer Handtasche gekrallt. War sie unsicher gewesen, ängstlich, hatte sie gar überlegt, einfach wieder umzukehren? Das Bild verschwand so schnell, wie es gekommen war. Wie grotesk wäre diese Halle hier meinen Großeltern vorgekommen, wie grotesk musste sie selbst meiner Mutter erschienen sein.
    Die Autovermietung, die der Polizist mir genannt hatte, befand sich ganz am Ende der Halle. Ich ging dorthin, reihte mich in die Schlange. Ein Mietwagen für eine allerletzte Fahrt. Warum hatte sie sich gerade für diesen Anbieter entschieden? Weil ihr die Farbe seines Logos gefiel? Weil dort gerade kein anderer Kunde bedient wurde, als sie ankam, weil ihr die junge Frau hinter der Theke sympathisch war? In dem Wagen, der ihr nicht mehr ausweichen konnte, hatte ein Ehepaar gesessen. Rentner aus Berlin, 65 und 63 Jahre alt. Sie wollten die Nacht durchfahren und am frühen Morgen in Rostock die Fähre nach Dänemark nehmen, wo ihre Tochter lebte und gerade zum zweiten Mal Mutter geworden war. Sie hatten nichts falsch gemacht und ganz sicher nicht sterben wollen – ohne Vorbereitung und Abschied. Ohne auch nur zu begreifen, was mit ihnen geschah.
    Und meine Mutter, was war mit ihr? Hatte sie in diesen allerletzten Sekunden daran gedacht, wie ihr Vater die toten Sünder segnete, hatte sie das getröstet? Vielleicht, vielleicht auch nicht. Ich würde es nicht erfahren, genauso wenig wie Ivos letzte Gedanken. Die Unwissenheit der Überlebenden. Ich kannte sie gut. Ich hasste sie.
    »Hallo! Hallo?«
    Die lächelnde Blonde hinter der Theke meinte mich, ich brauchte einen Moment, das zu begreifen.
    »Ja also, ich … ich will kein Auto,
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