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Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition)

Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition)

Titel: Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition)
Autoren: Gisa Klönne
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eines Mietwagens auf der Autobahn.
    Jetzt, warum jetzt, nach so vielen Jahren?
    Als wir das letzte Mal telefonierten, hatte sie beinahe heiter geklungen, und auch mir war es diesmal gelungen, Weihnachten, Silvester und die erste Januarwoche mithilfe einiger Sonderschichten beinahe mühelos zu überstehen. Als ob eine sehr alte Wunde doch noch begonnen hätte zu heilen, so hatte ich mich gefühlt. Als würde nun alles gut.
    Sind Sie noch dran, Frau Hinrichs? Haben Sie mich verstanden?
    Ich bestätigte das und versprach, nach Berlin zu kommen. Ich blieb gefasst, ich begann zu handeln. Ich zog mich an und ließ mich am Flughafen von Mahé auf die Standby-Liste setzen. Ich kehrte auf die MS Marina zurück, beantragte Sonderurlaub bei der Reederei und besprach mit dem musikalischen Leiter, wie und mit wem er den plötzlichen Ausfall meiner allabendlichen Konzerte in der Lili-Marleen-Bar überbrücken könnte. Ich packte eine Reisetasche mit meinen Noten und CDs, verstaute den Rest meiner Besitztümer in einem Koffer und schleppte ihn in einen Lagerraum, damit ein anderes Mitglied der Crew während meiner Abwesenheit in den Genuss meiner Einzelkabine kommen konnte. Ich tat all dies sehr systematisch und schnell, ohne auch nur zu überlegen, als spielte ich eine Melodie, die meine Finger so oft geübt hatten, dass sie auch ohne mein Zutun den Weg über die Tasten fanden. Ich verhielt mich vernünftig, hätte meine Mutter gesagt.
    Sie ist frontal mit einem entgegenkommenden Fahrzeug kollidiert. Beide Wagen gingen sofort in Flammen auf. Niemand hatte auch nur den Hauch einer Chance, zu überleben.
    Ich sah wieder aus dem Flugzeugfenster. Die Scheibe war schmierig, an ihren Rändern klebten winzige Eiskristalle. Wolkenfetzen flogen im fahlen Frühmorgenlicht vorbei. Ein deutscher Winterhimmel, genau so, wie ich ihn aus den Weihnachtsferien meiner Kindheit in Erinnerung hatte, im Pfarrhaus meiner Großeltern in Mecklenburg. ›Drüben‹ oder ›in der DDR‹, wie wir damals noch sagten, und obwohl wir, sooft es ging, in dieses andere Deutschland aufbrachen, steckte jede Fahrt dorthin wieder voller Unwägbarkeiten. Würde unser Einreiseantrag überhaupt bewilligt werden, und wenn ja, für wie lange? Würden wir die nötigen Papiere rechtzeitig erhalten? Würden uns die Zöllner an der Grenze sämtliche Koffer auspacken lassen und den Bohnenkaffee konfiszieren, oder würden sie uns – oh Wunder – verschonen?
    Die Erwachsenen klagten über all diese Schikanen und sorgten sich schon lange im Voraus, aber uns Kinder versetzte der Nervenkitzel ein ums andere Mal in Ekstase. Wir schnitten Grimassen im Rücken der Zollbeamten, wir ahmten ihren Befehlston nach, sobald wir die Grenzanlagen passiert hatten, und wir liebten es zu beobachten, wie sich die Landschaft dann plötzlich auf beinahe magische Art veränderte: Der Himmel öffnete sich und sah nun viel höher und weiter aus. Endlose Felder schwangen in sanften Hügeln zum Horizont. Rehe ästen an Wasserlöchern, die, wie mein Vater beharrlich behauptete, noch aus der Eiszeit stammten. Alleebäume kamen in Sicht, archaische Riesen mit narbigen Stämmen. Aber trotz dieses Überflusses wirkte die Landschaft niemals protzig, eher im Gegenteil. Eine Art stille Melancholie schien auf ihr zu ruhen und ließ sie altmodisch aussehen, aus der Zeit gefallen. Und allmählich verwandelten sich auch die Straßen. Sie wurden immer schmaler und schließlich zu unbefestigten Pisten, und wir holperten durch immer kleinere Dörfer, die selbst im Sommer ausgestorben wirkten.
    Alles in Mecklenburg geschieht hundert Jahre später als anderswo, heißt es. Bitterkeit, manchmal auch Zorn, lag in den Stimmen der Erwachsenen, wenn sie davon sprachen. Doch wir Kinder fügten uns mühelos in diese vom Fortschritt vergessene Welt, für uns waren das baufällige Backsteinhaus und der riesige Pfarrgarten, der sich bis zum Seeufer erstreckte, die Basis für Abenteuer, jedes Mal wieder. Da war so ein Wispern im Schilf, dessen Ursache wir niemals herausfinden konnten. Der Kirchturm begann zu schwanken und mit den Wolken zu fliegen, wenn wir auf eine bestimmte Art den Kopf in den Nacken legten und die Augen zusammenkniffen. Wir ersannen Spiele und Rituale, geheime, verbotene: Das Tauchspiel. Das Hühnerorakel. Die Mutprobe mit den Bienen. Natürlich zankten wir uns auch, schürften uns Knie und Ellbogen auf, ein paar Mal wurden wir auch krank. Wir mussten im Garten und in der Küche helfen und sonntags im
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