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Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition)

Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition)

Titel: Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition)
Autoren: Gisa Klönne
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herunter.
    »Vorerst!« Theodor schlägt ein und lässt sich hochziehen. »Aber wenn du Weihnachten wiederkommst, mach dich auf was gefasst.«
    »Das werden wir ja sehen.«
    »Ich werde trainieren und esse für zwei!«
    »Oh, ich zittere jetzt schon.«
    Sie klettern zur Warnow herunter und hocken sich nebeneinander auf den Baumstamm. Lässig kramt Richard ein Päckchen Zigaretten aus seiner Hosentasche.
    »Wo hast du die denn her?«
    »Wenn ich doch jetzt Soldat bin.«
    Sie rauchen schweigend, während das Abendrot in der Warnow verglüht, schauen zu, wie die Fische nach Luft schnappen, sehen ihren Kippen nach, die allmählich stromabwärts treiben. Woher wissen die Fische, dass sie die Zigarettenstummel nicht fressen können? Wieso ist er mit fünfzehn noch zu jung, für Gott und den Kaiser in den Krieg zu ziehen? Inzwischen ist er fast genauso stark wie sein Bruder und die Schule kann warten.
    »Du musst daheim die Stellung halten, Dorl«, sagt Richard, als könne er diese Gedanken lesen. »Solange ich weg bin, trägst du die Verantwortung für die Geschwister.«
    Schräg gegenüber bewegt sich etwas. Ein Reh tritt aus dem Dunkel der Bäume und wittert. Aber der Wind steht wohl falsch, denn es bemerkt sie nicht. Ganz ruhig, völlig furchtlos schreitet es ans Wasser, neigt den samtenen Kopf und beginnt zu trinken. Als wären wir gar nicht hier, denkt Theodor plötzlich. Als ob es uns gar nicht gäbe.

2. Rixa
    Die Luft in der Ankunftshalle war stickig und trocken und auf eine Weise geheizt, die nicht wärmte. Die Schneemassen vor den Fenstern ließen das Flughafenszenario irreal wirken, als wären wir in Sibirien oder irgendwo in Skandinavien gelandet, aber nicht in Berlin. Doch vielleicht lag das an mir oder an meinem Zeitgefühl, das dem Flug hoffnungslos hinterherhinkte. Es kam mir tatsächlich so vor, als hätte ein Teil von mir noch gar nicht verstanden, was eigentlich geschehen war, sondern säße immer noch in diesem unglaublich weichen Seychellensand und freute sich darauf, am Abend mit Lorenz ein paar neue Songs auszuprobieren.
    Passagiere drängelten sich an mir vorbei, irgendwo weinte ein Baby, zwei dunkelhäutige Frauen mit riesigen Hüten und bunten Seidenkleidern schritten zur Passkontrolle wie zwei Königinnen, die im Begriff sind, dieser seltsam bleichen, uniformierten Spezies Mensch in den Glaskabinen eine Audienz zu gewähren.
    Fremd bin ich eingezogen, fremd zieh ich wieder aus.
Schubert.
Die Winterreise
. Wie aus dem Nichts war sie auf einmal da. Die so sparsam gesetzte Klavierpartitur, das Moll der Gesangsstimme, die sich daran anschmiegte, die Worte. Wann hatte ich die
Winterreise
zuletzt gespielt? Es war Jahre her, ich wusste es nicht mehr. Aber ich wusste noch genau, wie es gewesen war, als ich sie entdeckte, wie ich sofort von ihr gefangen war und vor allem das
Gute Nacht,
die
Nebensonnen
und den
Leiermann
übte und übte, um sie Weihnachten vorzutragen. Mein Geschenk für meine Familie, ich war dreizehn und kam mir sehr erwachsen vor, ich war mir so sicher, dass es ihnen gefallen würde.
    Aber dann traf meine Stimme den Ton nicht, und vor lauter Schreck verspielte ich mich, und die Erwachsenen saßen auf einmal ganz reglos. Missbilligung war das, das spürte ich, auch wenn niemand etwas sagte. Und ich bemühte mich, meinen Fehler wiedergutzumachen, ich begann noch einmal von vorn, verhaspelte mich aber bald noch einmal, und noch mal, und noch mal, bis ich aufgab und nach draußen an meinen geheimen Lieblingsplatz floh, unten am See, im gefrorenen Schilf.
    Ivo war es, der mich dort schließlich fand und dazu überredete, wieder ins Warme zu kommen. Er war es, der mir versicherte, einmal sei keinmal und ich könne die Aufnahmeprüfung am Konservatorium doch trotzdem schaffen. Er sollte recht behalten, aber das wusste ich an jenem Nachmittag nicht, und selbst wenn ich ihm geglaubt hätte, wäre ich unfähig gewesen, das zu äußern, denn meine Zähne klapperten unkontrollierbar, ich zitterte am ganzen Körper. Über eine Stunde hatte ich im Schnee ausgeharrt, ich war völlig ausgekühlt.
    Was hatten die Erwachsenen währenddessen getan? Wieso hatten sie nicht nach mir gesucht oder gerufen? Und wieso hatte niemand von ihnen je wieder mit mir über das missglückte Konzert gesprochen oder mich zumindest getröstet? Ich wusste es nicht mehr, vielleicht hatten sie es ja sogar versucht und ich hatte das vergessen, weil ich noch am selben Nachmittag hohes Fieber und eine furchtbare Blasenentzündung
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