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Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition)

Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition)

Titel: Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition)
Autoren: Gisa Klönne
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Gottesdienst aus der Bibel vorlesen. Aber alles in allem waren wir frei und uns selbst überlassen, und das Glück war die meiste Zeit so selbstverständlich, dass wir es nicht einmal richtig bemerkten.
    Das Flugzeug neigte sich in eine Kurve. Dort, wo vorhin die Sonne aufgegangen war, lasierte ein durchscheinendes Rosa den Himmel. Genau so hatte ich mir als Kind das Licht an jenem Morgen vorgestellt, an dem meine Mutter zur Welt gekommen war. Die Nachzüglerin im Pfarrhaus, das Nesthäkchen. Das neunte Kind, das zur Unzeit geboren wurde, 1945, mitten im großen Sterben.
    Dorothea nannten sie mich, Gottesgeschenk. Meine Windeln schnitten sie aus zwei alten Oberhemden und einem zerschlissenen Kopfkissenbezug. Aus dem Fuchspelz einer Flüchtlingsfrau aus Ostpreußen, die am Weihnachtsmorgen tot und steif gefroren vor dem Kirchenportal gelegen hatte, nähte meine Mutter einen Schlafsack für mich, weil es zum Heizen nicht genug Brennholz gab. Wenn meine Mutter dann morgens nach mir sah, wusste sie immer sofort, dass ich noch lebte. Denn mein Atem gefror über Nacht zu Raureif, sodass die Fellspitzen aussahen wie geklöppelte Spitze.
    Ich dachte daran, wie mir meine Mutter solche Geschichten zugeflüstert hatte. Wie sie sich dazu auf mein Bett setzte und das Licht ausschaltete und mich in den Arm nahm. Ich dachte an den leisen Singsang ihrer Sätze, und wie sich deren Inhalte im Laufe der Jahre in meinem Kopf mit den historischen Fakten vermischt hatten. Hitler und Stalin. Soldaten und Panzer. Vergewaltigte Frauen und die endlosen Flüchtlingstrecks aus dem Osten, die für mich letztlich doch immer namenlos und abstrakt blieben, nicht wirklich begreifbar. Und auch meine Mutter kann sich unmöglich bewusst daran erinnert haben, sie war ja noch nicht einmal geboren, als der Krieg schließlich endete. Sie kann mir nur zugeflüstert haben, was ihr selbst erzählt worden war. Die offizielle Version der Ereignisse. Die Legenden der Pfarrersfamilie Retzlaff.
    Aber sie hat diese Geschichten trotzdem so erzählt, als wären sie wahr, ja, als wären sie nicht mal vergangen. Immer nachts, immer nur mir, nie, wenn ich sie darum bat, sondern nur, wenn sie aus irgendeinem Grund entschieden hatte, dass die Zeit dafür wieder einmal gekommen war.
Unsere kleinen Geheimnisse, Rixa, nicht wahr?
Warum, fragte ich mich jetzt auf einmal. Warum vertraute sie die nur mir an, nie Ivo oder Alexander oder meinem Vater? Oder hatte sie das getan, und ich hatte es nur nicht erfahren?
    Ich wusste es nicht. Ich wusste so wenig. Solange ich klein war, hatte ich mich einfach an sie gelehnt und zugehört, auch wenn ich längst nicht alles verstand, was sie in mein Haar flüsterte. Ich fühlte mich privilegiert in diesen nächtlichen Stunden. Auserwählt und geliebt, ich nahm, was sie mir gab, weil ich instinktiv spürte, dass mehr Nähe und Zärtlichkeit von ihr nicht zu erwarten waren. Und irgendwann war ich dann wohl zu groß geworden oder wir stritten zu viel. Und wenn sie dann manchmal dennoch an mein Bett schlich, schickte ich sie weg. Weil ich lieber Musik hören wollte und mich mit fünfzehn zu alt für ihre Geheimnisse fühlte. Manchmal auch einfach nur aus Trotz, weil sie mich nachmittags beim Klavierüben gestört hatte.
    Ich versuchte mir meine Mutter in einem Mietwagen vorzustellen, nachts, allein auf der Autobahn, in dem Bundesland, das sie nie mehr als Zuhause bezeichnet hatte, nachdem ihr Lieblingssohn dort ums Leben gekommen war. Ich schloss die Augen. Glaubte für einen Moment ihre Stimme zu hören, wie sie in diesen Nächten in meinem Kinderzimmer geklungen hatte, ganz nach innen gekehrt und so leise, dass es mir manchmal vorkam, als träumte ich ihre Worte nur.
    »1944 hat dein Großvater aufgehört, Selbstmördern ein christliches Begräbnis und Gottes Segen zu verweigern. Weil es einfach zu viele wurden und er einsehen musste, dass es schlimmere Sünden gab, als sich selbst zu richten.«
    Ich spürte ihren Atem in meinem Haar. Ich roch ihr Parfum, einen englischen Maiglöckchenduft mit einem komplizierten Namen. Ich fühlte, wie ihre Worte etwas tief in mir berührten.
    »Was denn für Sünden, Mama?«
    »Das verstehst du noch nicht.«
    »Aber ich bin schon fünf.«
    »Das war nur so dahergesagt, Ricki, das braucht dich nicht zu kümmern. Die Menschen sind einfach nicht alle gut.«
    »Aber Gott passt doch auf.«
    »Natürlich, ja. Aber Gott kann nicht immer überall zugleich sein.«
    »Sieht er uns manchmal auch nicht?«
    »Doch, euch
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