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Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition)

Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition)

Titel: Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition)
Autoren: Gisa Klönne
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wieder ein, aber da war es schon zu spät, da war Alex schon auf dem Weg zu mir.
    Wer hatte den Schaden eigentlich damals bezahlt? Das schrottreife Auto und die Ausbesserungsarbeiten an der Unfallstelle. Meine Eltern? Die Autoversicherung? Ich hatte mich nicht darum gekümmert, hatte nicht einmal darüber nachgedacht. Aber Ivo war auch der einzige Tote gewesen, der Kasten-R4, den er von seinem Kumpel Piet geliehen hatte, war an einem Betonpfeiler zerschellt.
    Ich legte die Hände um den Kaffeebecher. Er war heiß, trotzdem schien diese Wärme nicht in meine Finger zu dringen. Seit Ivos Tod war niemand von uns mehr in Mecklenburg gewesen. Das Wissen, dass er dort gestorben war, hielt uns effektiver auf Distanz, als es die Grenze je vermocht hatte. Das war natürlich absurd, wir straften das Land durch Nichtachtung, als würde das irgendetwas ändern. Aber ohne die Wiedervereinigung würde Ivo noch leben, jedenfalls hätte er dann nicht so einfach aus einer nächtlichen Laune heraus in Berlin in ein Auto steigen können, um zur Ostsee zu fahren.
    Schritte und eine dunklere Frauenstimme mischten sich in die Geräusche von draußen, kurz darauf betrat Nancy Müllers Kollegin den Hinterraum und zog die Tür hinter sich zu.
    »Vanessa de Jong, es tut mir so leid! Geht es Ihnen wieder besser? Nancy sagt, Sie sind gerade fast umgekippt.«
    Ihre Hand war sehr warm und weich. Ihre Augen blitzten blau über rosigen Wangen. Eine stabile, gesunde junge Frau mit ein paar Kilo zu viel auf den Hüften. Auf einmal glaubte ich zu verstehen, warum meine Mutter gerade diese Autovermietung ausgewählt hatte. Wegen Vanessa. Sie war nicht so furchterregend perfekt wie die anderen Mädchen.
    »Ja, danke, es war nur … Ich bin gerade erst … ich wüsste nur gern …«
    »Ja, natürlich.«
    Sie ließ meine Hand los, verstaute ihre Handtasche im Schreibtisch und tippte etwas auf der Computertastatur. Was, fragte ich mich, was wüsste ich denn gern? Warum das Leben so war, wie es war. Was in meiner Mutter vorgegangen war. Lächerlich, schlichtweg nicht zu beantworten.
    Der Drucker begann zu rattern und spuckte Papiere aus. Vanessa de Jong wartete, bis er fertig war, nickte und rollte ihren Schreibtischstuhl dann so, dass sie mir gegenübersaß.
    »Ein silberner Golf«, erklärte sie freundlich. »Benziner. Automatic. Mit Navi. Ihre Mutter hatte ihn für ein langes Wochenende gebucht, von Freitagmorgen bis Montagabend. Unser XXL-Tarif. Ich habe ihr unseren Weekend-Stammkundenrabatt von zwanzig Prozent gegeben.«
    »Stammkundenrabatt? Wieso Stammkundenrabatt?«
    Sie hob die Augenbrauen, schob mir wortlos die Ausdrucke zu. Ich las sie sehr langsam, Seite für Seite. Name, Geburtsdatum, Ausweis und Führerscheinnummer. Adresse und Telefon. Datum der Anmietung, gefahrene Kilometer. Unterschrift. Rückgabe. Es gab keinen Zweifel, meine Mutter war Stammkundin hier. In den letzten zwei Jahren hatte sie alle paar Wochen ein Auto gemietet. Meist für ein Wochenende, manchmal auch länger.
    »Ich habe sie gemocht«, sagte Vanessa de Jong leise. »Sie war immer so freundlich. Ich wusste gar nicht, dass sie eine Tochter hat.«
    Bei meinem letzten Besuch im September war es draußen noch warm gewesen und die Luft schien zu leuchten. Rixa, wie nett, hatte meine Mutter zur Begrüßung gesagt. Im Wohnzimmer war zum Tee gedeckt, mit Kandis und Sahne und einem Krug Spätsommerblumen, die aussahen wie die in den Sträußen, die wir früher im Garten gepflückt hatten. Alles in Ordnung hier, ich komme klar. Sie erzählte mir, dass sie ein neues Medikament gegen ihre Schlafstörungen verschrieben bekommen hatte und am kommenden Wochenende beim Flohmarkt in ihrer Kirchengemeinde helfe. Sie erwähnte mit keinem Wort, dass sie regelmäßig Auto fuhr, sie sprach auch nicht von Ivo, aber als ich ihr von meinen Sommerengagements und der bevorstehenden Saison auf der Marina berichtete, ging ihr Blick in die Ferne, und ich war mir sicher, sie dachte an ihn. Irgendwie waren die nächsten zwei Stunden dann trotzdem vergangen. Ich hatte Apfelkuchen mitgebracht, und den aßen wir, obwohl er ihr nicht schmeckte, jedenfalls nicht so gut wie der nach dem Rezept ihrer Mutter, den sie früher für uns gebacken hatte. Und dann war ihr plötzlich eingefallen, dass sie dringend etwas aus der Apotheke benötigte. Augenblicklich. Sofort. Weil sie genug von mir hatte, folgerte ich. Weil ich nicht Ivo war und sie dennoch unweigerlich an ihn erinnerte. Und ich konnte sie ja verstehen, ich
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