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Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition)

Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition)

Titel: Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition)
Autoren: Gisa Klönne
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Pfarrhaus klingelte nie. Wer ein Anliegen hatte, schrieb einen Brief oder klopfte einfach an die Tür. Manchmal fiel der Strom aus, und dann warteten wir Minuten oder Stunden im Kerzenschein, bis das Licht wieder zu flackern begann. Wenn wir ein warmes Bad nehmen wollten, wurde umständlich ein Holzofen angeheizt.
    Was hatten wir getan, den ganzen Tag? Die Erwachsenen saßen beieinander und redeten, oder sie gingen spazieren oder zum Baden. Die Frauen erledigten nebenbei den Haushalt. Wir Kinder saßen mal mit am Tisch oder, als wir noch kleiner waren, unten drunter und ließen die vertrauten Stimmen über uns hinwegsausen, wenn wir nicht durch den Garten stromerten. Manchmal kam Besuch, weitere Onkel und Tanten und Cousins und Cousinen ergossen sich aus einem klapprigen Trabant auf den Vorplatz des Pfarrhauses. Sonntags war Gottesdienst, dann waren alle herausgeputzt und es gab für jeden ein Ei zum Frühstück, wachsweich gekocht mit diesem unglaublich würzigen, sattgelben Dotter. Wir blieben zu Hause oder wir besuchten Freunde und weitere Verwandte, denn es gab in der DDR ja keine gastlichen Restaurants, Kneipen, Kinos oder Freizeitparks, und außerdem konnte man nicht offen sprechen, wenn man nicht unter sich war.
    Ich zitterte, merkte ich plötzlich. Mir war immer noch kalt und zugleich begann ich zu schwitzen, und immer noch foppte mich Schubert. Zur Uraufführung 1827 hatte er seine
Winterreise
persönlich auf dem Klavier vorgetragen und dazu gesungen. Es muss ein denkwürdiger Abend gewesen sein, der Meister höchstselbst, doch sein Ruhm war noch nicht gefestigt, und seine Zuhörer hatten wenig begeistert reagiert. Zu düster war dieser Liederzyklus für ihre Hörgewohnheiten. Zu aufwühlend. Als Teenager hatte ich diese Kraft instinktiv gespürt, fühlte mich von ihr angezogen, auch wenn ich weder die Musik noch die Bedeutung der Liedtexte in all ihren Facetten verstand. Vielleicht lag es daran, dass mein Weihnachtskonzert damals so missglückt war. Vielleicht hatte ich mich einfach übernommen.
    Ich beugte mich vor, um ein Gummibärchen aus der Schale zu nehmen, sah ein verzerrtes Gesicht über den Metallbauch der Thermoskanne huschen, ungesund gelbstichig, nicht sonnengebräunt. Ich öffnete eins der Milchdöschen, die Lasche riss ab, die Flüssigkeit spritzte mir über die Finger. Scheiße, verdammte. Ich zog ein paar Papiertücher aus einer mit Buddhaköpfen bedruckten Schachtel, die auf dem Sideboard stand. Buddhas, Comicmäuse und Gummibärchen, einträchtig nebeneinander, der Lifestyle des dritten Jahrtausends. Ich atmete durch und wischte mir die Hände ab, schaffte es im zweiten Anlauf, Milch in meine Tasse zu befördern.
    Der Computer unter dem Schreibtisch brummte, vorn an der Theke duellierte sich der erregte Tenor eines Mannes mit Nancys Sopran. Stille, einfach Stille, auf einmal sehnte ich mich danach, so stark, dass es beinahe körperlich schmerzte.
    In Mecklenburg war mir die Stille oft greifbar vorgekommen, wie ein eigenständiges Wesen, nachts vor allem, wenn ich an den See schlich. Jedes Mal, wenn wir nach den Ferien in Poserin wieder im Westen waren, erschien mir dort alles viel zu grell, zu überfüllt mit Waren, Lichtern, Autos, und paradoxerweise zugleich sehr viel ärmer. Als ob es in all diesem Überfluss an etwas ganz Essenziellem mangelte. Und ich war entsetzt gewesen, als nach der Wende als Erstes neue Straßen und Autobahnen in Mecklenburg gebaut wurden. Das war natürlich egoistisch, aber ich wollte diese Stille behalten, die stehen gebliebene Zeit, diesen Mangel an Reizen, der uns auf uns selbst zurückwarf, dieses Land im Dornröschenschlaf, das mir noch Ende der Achtzigerjahre einen Eindruck davon vermittelt hatte, wie das Leben einmal gewesen sein musste. Vor dem Krieg, ja, noch früher.
    Wann hatte ich zum letzten Mal echte Stille erlebt? Nicht auf der Marina, nicht im Flugzeug, selbst an dem Strand auf Mahé nicht, an dem ich vor ein paar Stunden noch geglaubt hatte, die Vergangenheit könne mir nichts mehr anhaben. Ich dachte an Alex und dass es für das, was ich ihm sagen müsste, eigentlich keine passenden Worte gab. Ich dachte daran, wie er damals nach Ivos Unfall vor meiner Tür stand. Ich hatte mein Handy in jener Nacht ausgeschaltet und das Festnetztelefon aus der Wand gezogen, weil ich endlich mal wieder ausschlafen wollte. Ich schlief bis zum späten Nachmittag, nicht ahnend, was unterdessen mit meiner Familie geschah. Erst gegen 19 Uhr fiel mir mein Telefon
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