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Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition)

Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition)

Titel: Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition)
Autoren: Gisa Klönne
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war sogar froh. Es war sehr viel leichter, alleine zu sein, als mit ihr zusammen. Alleine konnte ich besser vergessen.
    Ich zählte die Ausdrucke durch. Insgesamt hatte meine Mutter fünfzehnmal einen Wagen am Flughafen Tegel gemietet, immer einen VW, und zuletzt, wie Vanessa de Jong gesagt hatte, für vier volle Tage. Wo war sie hingefahren – immer nach Mecklenburg? Das wurde nicht registriert, nur die zurückgelegten Kilometer, und die waren immer in etwa gleich. War ihr Tod also doch nur ein tragischer Unfall? Hatte sie gar nicht sterben wollen? Ich ließ die Papiere sinken und wandte mich wieder Vanessa de Jong zu, die geduldig auf ihrem Stuhl saß und wartete.
    »Wissen Sie, was meine Mutter vorhatte, hat sie Ihnen irgendetwas darüber erzählt?«
    »Nicht mehr als sonst auch.« Die Autovermieterin hob die Schultern. »Anfangs hat sie mal erklärt, dass sie einen Wagen bräuchte, weil es dort, wo sie hinwollte, weder Bahnhof noch Supermarkt gäbe, aber wo das genau war …« Sie runzelte die Stirn, gab sich wirklich Mühe. »Irgendwo in Mecklenburg, ein kleines Dorf. Wie hieß das denn noch? Einmal hat sie das, glaube ich, erwähnt. Nein, ich komm nicht mehr drauf. Aber sie stammte von dort. Na, das wissen Sie ja viel besser als ich. Ich hätte wohl mehr mit ihr reden müssen. Jetzt denke ich das, aber so im Alltag? Da fragt man so vieles nicht, man will ja nicht aufdringlich sein. Und dann warten immer schon andere Kunden.«
    »War sie irgendwie anders als sonst, am letzten Freitag?«
    »Nein, überhaupt nicht. Es war alles normal.«
    »Und wie … ich meine, wie geht das jetzt alles weiter?«
    »Sie meinen, mit der Versicherung? Das ist alles geregelt, machen Sie sich keine Sorgen.«
    Sie gab mir ihre Visitenkarte zum Abschied. Sie war wirklich nett und betonte mehrmals, ich sollte sie anrufen, falls ich doch noch Fragen hätte.
    Einmal, nachdem wir im Mercedes meines Vaters die Grenze passiert hatten, hielten wir in einem tief verschneiten Waldstück an, weil wir dringend mal mussten. Und mein Vater rannte ausgelassen wie ein Junge hinter ein Gebüsch und pinkelte ein B in den Schnee, dann ein R, dann ein D, und Ivo und Alex machten das nach, und ich war beleidigt, weil ich das nicht konnte, doch meine Mutter war panisch: Wenn das jemand sieht! Hasenfuß, hatte mein Vater sie geneckt. Dorchen, mein Hasenfuß, nun hab dich nicht so. Aber meine Mutter ließ sich nicht beschwichtigen, selbst als wir alle wieder im Auto saßen, sorgte sie sich, ob die Grenzpolizei uns wohl gleich verfolgen würde, um unseren Frevel zu ahnden.
    Und nun war sogar ihr Tod versichert. Von einer Autovermietung. Im Tarif XXL.
    Die bunte Autovermietungswunderwelt lag schon ein Stück hinter mir, als mir diese Pointe so richtig bewusst wurde. Ich begann zu lachen, aber zugleich krampfte sich ohne jegliche Vorwarnung mein Magen zusammen, ich schaffte es gerade noch auf eine Toilette. Doch ich konnte trotzdem nicht aufhören zu lachen, selbst dann nicht, als ich schon in einer der Kabinen auf den Fliesen kniete und einen Schwall Kaffee mit Gummibärchen in die Kloschüssel spuckte. Ein Tod XXL. Ein Tod mit Stammkundenrabatt. Es war so absurd.

Theodor, 1918
    Ihm jubelt niemand mehr zu, als er in Rostock in den Zug steigt. Ihm und den anderen Männern, die mit ihm an die Front ziehen, winken nur schluchzende Frauen, Alte und bleiche Kinder. Der Krieg hat seinen Glanz verloren. Die Waggons sind schmutzig und kalt, ihre Passagiere lehnen sich stumm aus den Abteilfenstern und drücken die Hände ihrer Lieben, bis der Zug endlich anrollt. Wie anders hatten sie damals Richard verabschiedet. Girlanden schmückten seinen Zug und den Bahnhof, sie hatten gescherzt und die Fäuste siegesgewiss in den Himmel gereckt und die Parolen skandiert, die mit Kreide an die Außenwände der Waggons geschrieben waren: ÜBER METZ NACH PARIS! FRANKREICH GIB ACHT! DER SIEG IST UNS GEWISS!
    Und dann hatte Richard es nicht einmal mehr geschafft, ihnen zu schreiben. Das Bildnis eines Engels, der Eichenlaub auf die Brust eines Soldaten legt, war die einzige Post, die sie nach drei Wochen erhielten. »Wir sollen auch unser Leben für die Brüder lassen«, lautete die Inschrift der Karte. Ein Zitat aus dem 1. Johannesbrief, das die Eltern maßlos erboste. »Gefreiter Richard Retzlaff, gefallen in der Champagne am 26. September 1915. Zum ewigen Gedächtnis. Er starb fürs Vaterland.«
    Sie fahren über Nacht, rattern durch dunkle, verlassen wirkende Dörfer und Städte.
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