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Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition)

Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition)

Titel: Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition)
Autoren: Gisa Klönne
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in der es nicht einen einzigen Laut gibt, sodass, wenn das Eis wieder schmilzt, selbst die Stare sich auf ihre eigenen Lieder besinnen müssten. Und ich kam zu dem Schluss, dass es nicht funktionieren würde, weil ihr Gesang wohl trotz allem noch an etwas anknüpfen würde. Etwas, das vor dieser Eiszeit schon da gewesen war und wie ein Keim tief in ihnen geschlummert hatte. Etwas, das sie nun einfach fortführen würden.
    Mein Transit war nicht abgeschleppt worden, obwohl ich die gebuchte Parkdauer um eine Woche überschritten hatte. Ich bezahlte die Parkgebühren und kaufte auf der Fahrt nach Sellin ein paar Lebensmittel, eine Bodenhülse, um einen Pfahl zu verankern, und in einem Blumengeschäft zwei weiße Rosen. Othello lief mir entgegen und rieb sich an meinen Beinen, sobald ich die Tür des Pfarrhauses aufschloss. Auf dem Küchentisch lag eine Nachricht von Eike.
    Aber ich war noch nicht bereit, nicht an diesem Tag. Ich musste das Haus und seine Stille erst wieder in Besitz nehmen. Ich musste die beiden Rosen auf den von-Kattwitz-Grabstein legen und das Holzkreuz aus der Sakristei holen, mit dem mein Großvater vor langer Zeit die Russen in Schach gehalten hatte. Und ich steckte Claras Brief zu dem Hühnergott in die Blechdose, die ich in den Ritzen der Feldsteine entdeckt hatte, und schob sie wieder in das Versteck, das mein Großvater dafür gewählt hatte.
    Ich hörte Marillion, als ich den Transit in den frühen Morgenstunden des folgenden Tags in Richtung der A 19 lenkte. Drei Uhr, die Straßen waren leer, der Himmel noch schwarz. Ich dachte daran, wie meine Mutter hier entlanggefahren war. Ich dachte an Ivo. Ich drehte Marillion lauter und gab Gas, sobald ich auf der Autobahn war. Vielleicht war es eine Kurzschlussreaktion gewesen, die Ivo das Lenkrad herumreißen ließ. Die ultimative Flucht, vielleicht auch ein Unfall, weil er bekifft war. Vielleicht hatte meine Mutter einfach nur zurück nach Berlin gewollt, weil sie die Erinnerungen nicht aushielt.
    Ich fuhr auf der rechten Spur, bis vor mir der Betonpfeiler einer Brücke in Sicht kam. Ich setzte den Warnblinker, lenkte den Transit auf den Standstreifen und schaltete den Motor aus. Vielleicht war Ivo tatsächlich eingeschlafen, als sein R4 gegen den Pfeiler raste. Oder er hatte gedacht, er hätte alles im Griff, als er nur mal so zum Ausprobieren mit der Möglichkeit flirtete, sich das Leben zu nehmen. Vielleicht war meiner Mutter nicht klar gewesen, dass sie nicht mehr fahrtauglich war, und sie hatte sich maßlos erschrocken, als ihr ein anderes Auto entgegen kam.
    Ich wusste es nicht. Ich würde es niemals erfahren. Aber ich entschied mich dafür zu glauben, dass Ivo nichts von Sellin gewusst hatte, sondern zur Ostsee wollte, und meine Mutter zurück nach Berlin. Und ich stellte mir vor, alle beide wollten in Wirklichkeit leben. Es gibt kein Selbstmord-Gen in unserer Familie.
Don’t drink when driving
– das ist die Lehre.
    Ich stieg aus und hob das Holzkreuz meines Großvaters vom Beifahrersitz, das ich in die Bodenhülse aus dem Baumarkt gezwängt hatte. Es sah nicht sehr elegant aus, aber es würde halten. Ich kletterte die Böschung hinauf, fand eine kleine Kiefer, die mir zu passen schien. Ich legte das Kreuz ab, holte den Hammer aus dem Transit, verankerte es im Boden.
Dorothea. Ivo. In Liebe.
    Nach vier Uhr morgens inzwischen, die Autobahn lag still, eine grau schimmernde Schneise. Ich setzte mich eine Weile hin, betrachtete das Kreuz und hatte auf einmal Lust zu rauchen. Aber ich hatte keine Zigaretten und es war nur eine Laune, also blieb ich einfach sitzen und sah zu, wie die Sterne verblassten und der Himmel langsam grünlicher wurde, heller.
    Ich war nicht dabei gewesen. Ich war nicht sie. Vieles würde ich nie erfahren. Doch es gab meine Erinnerungen, das, was ich dachte und fühlte und machte. Mein Leben.
    Ich stand auf, kletterte wieder in den Transit, startete den Motor und fuhr an der nächsten Ausfahrt von der Autobahn ab und dann auf der Landstraße sehr langsam durch schlafende Dörfer Richtung Osten, dorthin, wo das erste Licht des neuen Tages an Kraft gewann. Plau, sieben Kilometer. Hier hatten meine Großeltern geheiratet, rechts und links der Bundesstraße hing auf einmal Nebel. Ich setzte den Blinker und folgte einem Feldweg mitten hinein, erreichte nach einigen Hundert Metern das Ufer der Warnow, schaltete den Motor ab, stieg wieder aus, fand einen Baumstamm, wartete, schaute.
    Lichtweiße Schleier. Der Nebel stieg
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