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Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition)

Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition)

Titel: Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition)
Autoren: Gisa Klönne
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Freundin. Als ob das noch möglich gewesen wäre.«
    Amalie lachte auf und öffnete die Augen wieder. Aß eine Olive, nippte an ihrem Sherry. »Und ich habe meiner Mutter tatsächlich nichts verraten. Auch mein Vater erfuhr nicht, dass ich ihn mit Clara gesehen hatte. Ich war hin und her gerissen, wusste weder ein noch aus. Ich fühlte mich, als würde auch ich meine Mutter verraten, wenn ich ihr das verschwieg, und zugleich wollte ich sie natürlich auch nicht ins Unglück stürzen. Nicht so verletzen. Also habe ich gehofft und gebetet, dass es wieder aufhört. Ganz die Pfarrerstochter eben. Nein, nicht ganz. Ich habe Clara verfolgt. Ich habe meinen Vater beschattet. Ich habe beobachtet, wie die beiden Liebesbriefe in die Sakristei schmuggelten, ich habe im Gebüsch unter Claras Schlafzimmer im Gutshaus gelauert und versucht die Zärtlichkeiten zu verstehen, die sie sich zuflüsterten und die Geräusche zu deuten, die nach draußen drangen, wenn sie sich liebten. Ich war wie besessen.«
    »Und dann?«
    »Dann kam der Winter und mit ihm die Flüchtlingsströme aus Ostpreußen, und die Rote Armee rückte immer näher, und das Deutsche Reich versank zunehmend im Chaos. Und als der Frühling kam und das Kriegsende schon in greifbarer Nähe war, verkündete meine Mutter, dass sie wieder schwanger sei, und ein paar Tage lang war ich so froh. Ich dachte, nun hätte sich alles gelöst.«
    »Deine Mutter wurde schwanger? Elise? Aber ich dachte, dass Clara –?«
    »Sie wurden beide schwanger, fast zeitgleich, Clara wohl ein paar Wochen früher als meine Mutter. Aber als sie nach Kriegsende bei uns einzog, wusste ich das noch nicht, denn sie bemühte sich natürlich, es zu verbergen.«
    »Clara von Kattwitz ist zu euch gezogen? Ins Pfarrhaus?« Ich war unwillkürlich laut geworden.
    Amalie nickte. »Ja. Und meine ahnungslose Mutter freute sich darüber.«
    »Und dein Vater hat ihr das zugemutet? Ehebruch im Pfarrhaus?«
    »Ich weiß nicht, was in ihm vorgegangen ist, Rixa«, sagte Amalie. »Ob er gehofft hat, dass es nicht herauskommen würde? Glaubte er, es wäre sein Recht, zwei Frauen zu lieben? Fühlte er sich verpflichtet, diese beiden Frauen zu schützen? Die Zeiten waren wild, viele aus der Gemeinde drängten sich in dieser Zeit in einen Schutz.«
    »Dann stimmt es also, dass er die russischen Soldaten aus der Kirche gejagt hat?«
    »Oh ja, er war eine imposante Erscheinung in seinem Talar, vor allem, wenn er zornig war und sich im Recht fühlte und in Gottes Namen sprach. Und er war ja auch einmal Soldat gewesen. Er postierte die letzten uralten Bäuerlein des Dorfs mit Sensen und Messern an den Kirchentüren. Und als sich nach ein paar Nächten die Lage etwas beruhigt hatte und wir wieder ins Pfarrhaus zogen, schlief er mit einer Axt auf dem Nachttisch. Monatelang noch. Und vor dem Fenster im ersten Stock direkt über der Eingangstür unseres Pfarrhauses haben wir Feldsteine angehäuft. Sollten die Russen unten jemals hereinzustürmen versuchen, so schärfte er mir ein, würde er sie unten mit dem Beil empfangen, und ich sollte sie dann von oben mit Steinen bewerfen.«
    »Und die Verandatür zur Seeseite?«
    »Es war eine absurde Zeit, Rixa. Man handelte nicht mehr rational. Der Krieg, Hitlers Terrorregime und diese ewige Angst vor dem Feind, die die Nazis so lange und perfide geschürt hatten, saßen allen im Nacken. Wer noch lebte, griff nach allem, was wie ein Rettungsanker aussah. Und Clara war ja nicht die Einzige, die auf einmal mit uns im Pfarrhaus lebte, in fast jedem Zimmer kroch eine Flüchtlingsfamilie unter. Und wo sonst hätte Clara auch hingesollt? Ihr Mann war wie besessen von der Idee, die Russen wieder aus seinem Gutshaus zu vertreiben. Claras Mutter war vor den Russen mit Claras beiden Kindern in den Westen geflohen, aber dort, wo sie hatte hinwollen, nie angekommen. Clara war also mittellos und hatte keine Bleibe. Also ließen sie sie in einer Kammer des Pfarrhauses wohnen. Und Clara selbst hoffte Tag um Tag, es käme bald Nachricht von ihrer Mutter.«
    »Aber die kam nicht.«
    »Nein, die drei galten als verschollen und sind, soweit ich weiß, wohl umgekommen.«
    »Und Franz von Kattwitz ist 1953 noch einmal aus dem Westen zurückgekommen und brannte das Gutshaus nieder.«
    »War das so?« Überrascht sah Amalie mich an.
    »So erzählt man es sich in Sellin.«
    Legenden. Geschichten. Ich versuchte, mir das Pfarrhaus in dieser Zeit vorzustellen. All diese Menschen darin, nicht nur die
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