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Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition)

Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition)

Titel: Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition)
Autoren: Gisa Klönne
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Retzlaffs.
    »Und dann, eines Nachts, kam es, wie es kommen musste: Meine Mutter hat die beiden auf der Chaiselongue im Arbeitszimmer meines Vaters überrascht«, sagte Amalie.
    »War das der Raum rechts neben dem Verandazimmer?«
    »Ja.«
    »Darin steht jetzt mein Flügel. Ein Blüthner aus Leipzig von 1911.«
    Ein feines Lächeln umspielte Amalies Lippen, verschwand aber sofort wieder, als sie weitererzählte.
    »Mutter wollte sich umbringen, sich erhängen. Ich weiß nicht, warum, aber ich bin wach geworden, habe sie auf der Treppe gehört, als sie auf den Dachboden schlich, und sie daran gehindert. Es war knapp, sehr knapp. Sie wollte sich nämlich nicht hindern lassen. Wir haben gekämpft. Ich habe sie angeschrien, dass sie an das Baby denken sollte, das sie unter dem Herzen trug. Dass dieses Baby unschuldig wäre. Ich habe sie an das fünfte Gebot gemahnt und sie angefleht, sich nicht auch noch zu versündigen, weil wir alle sie bräuchten.«
    Elise, meine Großmutter, denn ja, das war sie noch immer, die fromme, liebe Elise, die zu ihrem Mann aufsah. Wie viel Kraft mochte es sie gekostet haben, weiterzuleben. Hatte sie Amalie insgeheim dafür gehasst, dass sie sie gerettet hatte oder war sie ihr dankbar?
    »Sie muss mit meinem Vater gesprochen haben, auch mit Clara, ihnen gesagt, dass sie es wusste«, sagte Amalie. »Man merkte, wie angespannt die drei seit dieser Nacht miteinander umgingen, auch wenn sie uns Kindern nichts über die Gründe erzählten, sondern alles auf die schwierigen Zeiten schoben.«
    »Also ist Clara auch weiterhin bei euch geblieben.«
    »Bis sie starb, ja. Und das war furchtbar, jeder einzelne Tag.«
    »Und das Baby, Elises Baby?«
    »Daniel ist in derselben Nacht gestorben, in der deine Mutter geboren wurde. Eine Totgeburt.«
    Daniel von Kattwitz, das Neugeborene, mit dem gemeinsam mein Vater Clara laut seinem Kirchenbucheintrag beerdigt hatte. Er hatte die Kinder vertauscht. War das tatsächlich so gewesen?
    »Clara hat lange in den Wehen gelegen, die Hebamme wusste am Ende nicht mehr weiter, also organisierte mein Vater einen Leiterwagen und ein Pferd, das wohl einzig verfügbare Fuhrwerk Sellins, das die Russen noch nicht beschlagnahmt hatten, und fuhr mit ihr und der Hebamme nach Güstrow. Und kaum waren sie fort, setzten auch bei meiner Mutter die Wehen ein – zu früh, wahrscheinlich wegen all des Kummers und der Aufregung.«
    Ich sah, wie sich Amalies schön manikürte Finger ineinander verkrampften. Ich saß sehr still. Wartete.
    »Ich war allein mit meiner Muttter, ich habe ihr geholfen. Vielleicht habe ich etwas falsch gemacht, vielleicht hätte eine Hebamme oder ein Arzt etwas retten können. Aber es war nun einmal keiner da, und sie blutete und blutete und quälte sich fürchterlich, dabei war es doch ihr Zehntes. Und als der Kleine endlich hinauskam, war er tot, ganz blau, die Nabelschnur um den Hals, als würde er vollenden, was sie nicht geschafft hatte. Sie hat das erst gar nicht begriffen, sie war so erschöpft. Und auf einmal war mein Vater wieder da.«
    Amalies Stimme brach. Sie straffte die Schultern, atmete sehr langsam ein und wieder aus. Ich hörte Schritte im Hintergrund. Ann, erkannte ich in der Spiegelung des Fensters. Aber sie schien zu begreifen, dass Amalie erst zu Ende erzählen musste, sie blieb stehen, wartete.
    »Mein Gott, Rixa, du kannst dir das nicht vorstellen«, sagte Amalie. »Nie hatte ich ihn so gesehen, so erschüttert. Mit Claras Tod war etwas in ihm zersprungen. Und dieses schreckliche Geräusch, das aus seiner Kehle drang, als er erkannte, dass sein neugeborener Sohn, Daniel, tot war, und dass er ihn vielleicht hätte retten können, wäre er bei seiner Frau geblieben.«
    »Und dann hat er die beiden Kinder vertauscht«, sagte ich leise.
    Amalie nickte. »Und sie ließ es geschehen. Ich habe sie bewundert dafür, aufrichtig bewundert. Auch später, als sie die Größe hatte, ihm zu verzeihen. Ich weiß nicht, was sonst geschehen wäre. Ich glaube, er hätte sonst wohl den Lebensmut verloren.«
    Die Hungergesichter auf dem Foto meiner Großeltern von 1946. Dieser tiefe Schmerz, den ich in den Augen meines Großvaters zu sehen geglaubt hatte – ich hatte mich nicht getäuscht. Alles zerstört, alles verloren: das Deutsche Reich, an das er einst so glühend geglaubt hatte. Seine Werte. Seine Ehe. Seine Geliebte. Sogar sein kleiner Sohn, den er seiner Frau noch gemacht hatte, trotz seiner Affäre, warum auch immer.
    Ich sah Amalie an, sah, wie
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