Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition)

Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition)

Titel: Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition)
Autoren: Gisa Klönne
Vom Netzwerk:
dagegen ankämpfte, sie noch viel länger als er, so heroisch. Die Freundin, Elise, wollte sie nicht verraten und hintergehen. Keine Ehebrecherin sein. Sich nicht versündigen gegen das sechste Gebot. Und wie sie dann schließlich doch wieder seine Hand ergriff und ihn erlöste, in jener Sommernacht an der Ostsee.
Komm zu mir, Dorl. Hör auf, dich so zu quälen.
    Wie soll er Elise unter die Augen treten? Er kann es nicht und muss es doch, das hat er Clara versprechen müssen.
Du musst dich um sie kümmern. Und um unsere Kleine.
    Sein Kind. Claras Kind. Regt es sich noch? Theodor wickelt Claras Fuchspelz fester um den kleinen Körper, beugt sich vornüber und lauscht, haucht seinen Atem auf das kalte Gesichtchen. Dorothea, Gottesgeschenk. Leben sollst du, leben!

23. Rixa
    »Das bin nicht ich auf diesen Fotos, Rixa. Das ist Clara.«
    Clara von Kattwitz, die Gutsherrin. Nun, da ich das wusste, sah ich, dass Amalie recht hatte. Das war nicht Amalie auf dem Bild, das meine Mutter zusammen mit Claras Kerzenleuchter und einer Locke ihres Haars im Tresor aufbewahrt hatte. Das war nicht Amalie, die mein Großvater an der Ostsee im Bikini fotografiert hatte. In die er sich verliebt hatte, mit der er seine Frau betrogen hatte, mit der er ein Kind gezeugt hatte: Dorothea, meine Mutter.
    Ein Irrtum, mein Irrtum. Man sieht nur, was man weiß oder was man erwartet. Und natürlich war die Qualität dieser beiden Schwarz-Weiß-Fotografien aus den Vierzigerjahren nicht besonders gut und das Bildformat winzig.
    »Du bist ihr so ähnlich«, sagte Amalie. »Ich habe mich regelrecht erschrocken, als du hier ankamst. Du hast sogar Claras herrliche Altstimme.«
    Betrug. Verrat. Das Thema der
Winterreise
. Ich hatte meine Großeltern und meine Mutter mit meinem Vortrag damals nicht nur an dieses Drama erinnert, ich hatte wohl Clara selbst zum Leben erweckt, ohne das zu wollen oder auch nur von ihr zu wissen. Dreizehn war ich damals gewesen, vielleicht klang sogar meine Stimme schon so dunkel wie die Claras. Starr vor Entsetzen, unfähig zu reagieren, so hatte mein Publikum vor mir gesessen: die verratene Ehefrau und die verlassene Tochter. Und der Verräter, mein Großvater, der mich manchmal so sinnend ansah.
    Wann hatte meine Mutter erfahren, dass nicht Elise sie zur Welt gebracht hatte, sondern Clara? Nicht einmal zum Abschied an jenem Tag, als sie in den Westen aufbrach und Elise ihr Claras Kerzenleuchter zusteckte, hatten sie ihr das verraten. Erst bei jenem Ausflug nach Sellin hatte Elise ihr Schweigen gebrochen. Nicht freiwillig wohl, sondern weil meine Mutter – aufgerüttelt von ihren Gesprächen mit einem Psychologen – sie dazu gedrängt hatte. Und vermutlich hatte Elise meiner Mutter damals auch das Foto und die Locke von Clara gegeben, die sie dann später in Berlin zusammen mit Claras silbernem Engel-Kerzenhalter im Tresor wegschloss. Abgespalten von ihrem Leben. Versteckt, beinahe unsichtbar.
    Du bist nicht meine Tochter.
Ich hatte gespürt, wie verstört meine Mutter in der Selliner Kirche gewesen war, ihr Schock hatte sich auf mich übertragen. Doch ich hatte nicht verstanden, was genau eigentlich vor sich ging, hatte das nicht verstehen können, weil ich noch ein Kind war.
    Hatte meine Mutter sich überhaupt an Clara erinnern können? Unmöglich, nein. Clara war bei ihrer Geburt verblutet, nicht einmal für ein paar Sekunden konnte sie ihre neugeborene Tochter im Arm halten, sagte Amalie. Aber meine Mutter hatte Claras Stimme gehört, fast neun Monate lang, als Embryo während der Schwangerschaft. Vielleicht hatte mein Gesang daran gerührt und sie das wiedererkennen lassen. Instinktiv, so wie Alex’ Krabbenlarven die Region, aus der sie stammten, anhand des Klangs identifizierten? Ich hatte immer gedacht, sie missbillige meine Musik. Nach jenem verpatzten
Winterreise
-Vortrag hatte ich in ihrer Gegenwart nie mehr gesungen, sondern mich allein aufs Klavierspielen konzentriert. Aber es war wohl gar keine Missbilligung gewesen, sondern eine Schutzreaktion. Sie hatte meine Musik ganz einfach nicht ausgehalten, ohne den Grund dafür zu verstehen.
    »Du hättest Clara sehr gern gehabt, Rixa«, sagte Amalie. Wir saßen inzwischen in den beiden Sesseln vor der Fensterfront des Wohnzimmers, tranken Sherry und sahen zu, wie der Abend blassviolett über dem Wasser aufzog, was einem Sonnenuntergang über der Ostsee verblüffend ähnelte und doch Welten entfernt war vom Mecklenburg 1945. »Clara war unkonventionell und sehr
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher