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Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition)

Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition)

Titel: Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition)
Autoren: Gisa Klönne
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freiheitsliebend. Sie war ausgebildete Opernsängerin, war jedoch, nachdem sie kurz hintereinander zwei behinderte Kinder zur Welt gebracht hatte, von Berlin auf das Landgut ihres Ehemanns nach Sellin gezogen. Doch auch dort ist sie im Geiste eine Berliner Bohemienne geblieben. Links orientiert. Sie hat sich über Verbote der Nazis hinweggesetzt, es gibt keine Dogmen in der Musik, daran glaubte sie zutiefst. Sie hat mir so viel beigebracht, eigentlich alles, was ich für meine spätere Karriere wissen musste, verdanke ich ihr. Sie war eine hervorragende Lehrerin. Und sie war schön, wunderschön und sehr charmant.«
    »Du warst in sie verliebt.«
    Amalie lächelte. »Ja, das war ich wohl. Aber das waren wir eigentlich alle, alle haben von ihr geschwärmt, vom ersten Moment an: meine Mutter, Hermann, wir Kinder. Nur mein Vater blieb lange distanziert, weil sie ihm zu links und viel zu liberal war.«
    »Aber bei dir war es mehr als nur Schwärmerei.«
    »Ich war in sie verliebt, ja. Ich begehrte sie. Heute, rückblickend kann ich das so sagen, damals gab es für das, was ich fühlte, keine Worte, nein, schlimmer, es durfte überhaupt nicht existieren: Homosexualität – im Dritten Reich, und dann auch noch in einem Pfarrhaus in Mecklenburg.«
    »Aber Clara hat deine Gefühle nicht erwidert.«
    »Sie war nicht lesbisch, nein. Aber sie hatte meine Mutter sehr gern und auch uns Kinder. Als mein Vater aus der Partei austrat, hat ihr Mann wohl im Hintergrund auch ein paar Fäden gezogen, damit wir nach Sellin ziehen konnten, wie genau und ob das wirklich stimmte, haben wir nie erfahren. Jedenfalls übersiedelten wir von Klütz nach Sellin, und ich war überglücklich, ab da rund ums Jahr in Claras Nähe sein zu können, nicht nur in den Sommerferien.«
    »Und mein Vater?«
    »Tja. Erst hat er versucht, mir die Besuche bei Clara zu verbieten. Aber der Krieg nahm seinen Lauf, und dann wurde das klapprige Männlein, das sonntags die Orgel bediente, auch noch an die Front abkommandiert, und es gelang meiner Mutter und mir mit vereinten Kräften, Vater davon zu überzeugen, es mit Clara zu versuchen.«
    »Er hat sie zu seiner Organistin gemacht?«
    »Und den Kirchenchor hat sie auch geleitet. Und wie selig war ich, als sie im Sommer 1944 zu unserer Rüstzeit mit den Konfirmanden mit an die Ostsee kam.«
    Die Haushälterin schlich auf leisen Sohlen herbei, schenkte uns Sherry nach und servierte zwei Tellerchen mit Oliven. Das Pastelllicht am Horizont wirkte noch immer so, als blickten wir auf die Ostsee, und einen Moment lang dachte ich wieder an dieses Jugendfoto von mir im roten Bikini auf dem Palästinensertuch und an Reiners Hände auf meinem Körper.
    »Ich weiß noch genau, dass die Luft an diesem Abend ungewöhnlich lau war und wie mein Herz klopfte, als ich Clara an den Strand gefolgt bin«, sagte Amalie leise. »Und dann sehe ich meinen Vater und wie die beiden sich aufeinander stürzen und küssen und anfassen und miteinander flüstern – hungrig, so unfassbar hungrig.«
    »Und du?«
    »Ich war fassungslos. Verstört. Mein Herz war gebrochen. Ich wusste überhaupt nicht, wohin mit mir. Mein Vater, der bei uns Kindern jeden noch so kleinen Verstoß gegen die Moral mit drakonischen Strafen ahndete. Mein Vater, der mich, kaum dass ich dem Kindesalter entwachsen war, misstrauisch wegen jedes noch so harmlosen Annäherungsversuchs der Dorfjungs zur Rede stellte, als wäre ich eine Straßenhure – dieser Vater beging Ehebruch, und das ganz offenbar schon seit Längerem.«
    Amalie schloss die Augen und zog die Kaschmirstola enger um sich, verharrte eine Weile so. Sie war erschöpft, das war deutlich. Es kostete sie große Kraft, sich für mich zu erinnern. Ich überlegte, ihr anzubieten, am nächsten Tag weiterzusprechen, ließ es dann aber.
Hungrig
, seien mein Großvater und Clara gewesen, hatte sie gerade gesagt. Ich versuchte mir diesen Hunger vorzustellen, diesen Hunger nach Leben, im Angesicht des Untergangs. Eine verbotene Liebe, die alle bekannten Regeln und Dimensionen sprengt, die Liebe zu einer Frau, die nie die Nazis hofiert hatte. Ja, ich konnte das verstehen. Es war menschlich.
    »Clara hat sehr bald bemerkt, wie es um mich stand.« Amalie sprach weiter, mit geschlossenen Augen. »Sie hat mich gefragt, was mit mir los wäre, sie ließ nicht locker, so war sie eben. Und als ich es ihr schließlich sagte, hat sie mich angefleht, sie nicht zu verraten. Weil sie Elise nicht verletzen wollte, ihre liebe, gute
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