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Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition)

Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition)

Titel: Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition)
Autoren: Gisa Klönne
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zerbrechlich sie war, wie erschöpft. Ich sah Ann näher kommen. Besorgt und dennoch lächelnd. Ihre zärtlichen Hände auf Amalies Schultern. Wie viel Zeit hatten die beiden noch? War Amalie nach ihrem Schlaganfall tatsächlich wieder ganz gesund geworden? Ich sah Ann in Sellin vor mir, die reiche Amerikanerin. Ich stellte mir vor, wie Amalie nach der Sanierung des Pfarrhauses zu meiner Mutter nach Berlin gereist war, wie sie sich vielleicht sogar vorgestellt hatte, dass meine Mutter ihr um den Hals fallen würde, dass sie zusammen Möbel für das Pfarrhaus aussuchen würden, gemeinsam die Zeit nachholen, die sie dort nicht gehabt hatten.
    »Du hast meine Mutter geliebt«, sagte ich.
    »Ja.«
    »Wie dein eigenes Kind.«
    »Sie war so rührend, so hilflos. So ein liebes Mädchen. Und Elise, meine Mutter, sie konnte das nicht. Sie war gut zu ihr, aber –«
    »Sie konnte sie nicht lieben.«
    »Ja.«
    Meine Mutter hat das gespürt, dachte ich. Sie hat gespürt, dass Elise sie nicht wirklich liebte. Und sie hat sich ihr Leben lang nach dieser Liebe verzehrt. Sie hat alles dafür getan.
    »Ich habe ihr oft etwas vorgesungen, das liebte sie«, sagte Amalie. »Und sie liebte es auch, wenn ich Klavier spielte. Malie hat sie mich genannt. Malie pielen! Und wohin ich auch ging, sie schlich mir nach wie ein Hündchen.«
    Tränen in meinen Augen. Tränen, schon wieder Tränen.
    »Aber dann lernte ich Sergej kennen und damit vier Jahre nach Claras Tod zum ersten Mal wieder einen richtigen Musiker. Im Sommer 1949 war das. Er war mit seiner Kompanie im Gutshaus stationiert, ausgerechnet.« Amalie schnaubte. »Aber gut, ich nahm das in Kauf. Ich bin dorthin geschlichen, nachts, er spielte Geige, ich sang. Wir haben uns mit Händen und Füßen verständigt, einige der Soldaten sangen ebenfalls ganz passabel. Und ich blühte auf, ich wusste, das war meine Bestimmung. Nicht Kirchenmusik, sondern die Oper.«
    »Und also bist du eines Nachts für immer gegangen. Heimlich. Ohne Abschied.«
    »Ja, aber ich hatte es anders geplant. Ich wollte nicht dauerhaft verschwinden. Ich dachte immer, wenn ich erst ein wenig Fuß gefasst hätte, dann würde ich sie besuchen kommen und alles erklären.«
    »Und warum hast du das nicht getan?«
    »Weil Dorothea mir zum Gutshaus gefolgt war. Wahrscheinlich hat sie gespürt, dass etwas mit mir nicht in Ordnung war oder zumindest anders als sonst immer, wenn ich sie zu Bett brachte. Eine Art siebter Sinn. Und sie war wirklich zäh, barfuß im Nachthemd ist sie die vier Kilometer hinter mir her zum Gutshaus geschlichen. Und dann – gerade als Sergej und ich aufbrechen wollten, fing sie an zu weinen. Sie hatte große Angst um mich und ihre Füße waren ganz blutig, die Gefühle hatten sie wohl übermannt. Und natürlich konnte ich sie so nicht einfach stehen lassen oder einfach wieder heimschicken. Also hat Sergej sie und mich ins Auto gepackt und uns zurück nach Sellin gefahren.«
    Wieder verkrampften sich Amalies Finger. Auch Ann sah das und kniete nieder, nahm Amalies Hände in ihre.
    »Mein Vater hörte den Wagen, er sah uns, er stellte mich zur Rede«, Amalies Stimme klang jetzt anders. Flach. Gefühllos. »Ich sagte, lass mich erst Dorothea ins Bett legen, und das gewährte er mir. Ach, ich hätte laufen sollen oder Sergej zu Hilfe rufen, aber ich war ja eine aufrechte Protestantin. Er hatte mich schon so oft geschlagen, ich bildete mir ein, ich würde das notfalls noch einmal überstehen. Und außerdem, welches moralische Recht hatte er noch, über mich zu richten?«
    »Aber er tat es trotzdem.«
    »Ja, das tat er. Russenhure schimpfte er mich. Und da habe ich ihn an jene Nacht erinnert, als Daniel starb, weil er nicht da war. Und ich sagte ihm auch, dass ich von Clara und ihm wusste, und dass Dorothea seine Tochter sei, nicht nur Claras, wie er mir in jener Nacht hatte weismachen wollen.«
    »Und dann schlug er zu.«
    »Wieder und wieder. Er war wie von Sinnen. All seine Trauer, all seine Schuldgefühle, all sein Hass auf die Russen, alles entlud sich in diesem Moment, so kam mir das vor. Irgendwann spürte ich gar nichts mehr, sondern schloss mit meinem Leben ab. Denn er hörte erst auf, als ich schon beinahe bewusstlos auf dem Boden lag. Aber weißt du, was das Schrecklichste war?«
    »Nein.«
    »Dorothea. Deine Mutter. Sie war dabei, sie hat alles mit angesehen. Ich weiß nicht, wie es ihr gelungen war, mir wieder nachzuschleichen, aber sie hat es geschafft. Und weder mein Vater noch ich haben
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