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Das Lied der Cheyenne

Das Lied der Cheyenne

Titel: Das Lied der Cheyenne
Autoren: Thomas Jeier
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Dorf im Morgengrauen. Das schimmernde Gold der aufgehenden Sonne warf seinen Glanz auf die Tipis und ließ das Büffelgras geheimnisvoll leuchten. Auf den Büschen glitzerte der Tau. Die Erde roch frisch und würzig, und aus einigen Zelten stiegen bereits Rauchfahnen. Kinder liefen zum Fluss hinunter und badeten im kühlen Wasser. Pferde schnaubten, Hunde bellten, und Windfrau kam aufgeregt aus dem Tipi von Büffelhöcker und rannte über den freien Platz. Sie rief die Namen ihrer Freundinnen und kehrte mit ihnen zum Tipi zurück. »Beeilt euch!«, rief sie. »Es ist so weit! Weidenfrau ist so weit!«
    Der alte Schamane wusste, was die Aufregung zu bedeuten hatte. Weidenfrau war die jüngere der beiden Frauen, die bei dem Krieger der Hundesoldaten wohnten, und sie war schwanger. Wenn sie so weit war, bekam sie jetzt ihr Baby. Sieht-hinter-die-Berge eilte in sein Tipi und kehrte bereits angezogen und mit dem heiligen Kopfschmuck und den heiligen Gegenständen zurück, als die Frauen nach ihm schickten.
    Weidenfrau lag auf einem Büffelfell beim Feuer und hatte große Schmerzen. Die Wehen hatten schon vor einigen Stunden eingesetzt und waren so heftig geworden, dass sie es kaum noch aushielt. Aber sie war eine starke Frau, und in ihren Augen waren keine Tränen. Der Schamane kniete vor ihr nieder und flößte ihr etwas von der Rindenmedizin ein, die er in einem Gefäß aus Büffelhorn mitgebracht hatte. Dann begann er zu singen, und das eintönige Geräusch seiner Rassel erfüllte das Tipi. Er beschwor die Geister, ihr die Geburt zu erleichtern und ein gesundes Kind zur Welt kommen zu lassen.
    Weidenfrau bäumte sich auf, und das Kind kam aus ihrem Leib. Ihre Schwester wickelte die Nabelschnur einmal um ihren Finger und zertrennte sie mit einer Pfeilspitze. Dann wurde das Kind gebadet, mit dem Pulver eines Pilzes eingepudert und in weiche Decken gehüllt. Die Mutter nahm das Bündel entgegen und drückte es an ihre Brust. Sie war stolz und glücklich. »Es ist ein Mädchen«, sagte Büffelhöcker, der im hinteren Teil des Zeltes ausgeharrt hatte. Er klang ein bisschen enttäuscht, er hatte sich einen starken Sohn gewünscht.
    Sieht-hinter-die-Berge sah die Enttäuschung in den Augen von Büffelhöcker und erkannte, dass dieses Mädchen nicht zufällig bei seiner Rückkehr geboren worden war. Diese Geburt hatte etwas zu bedeuten. »Hör mich an, Büffelhöcker«, sagte er, »deine Frau hat ein besonderes Kind geboren. Es steht unter dem Schutz der Geister und wird zu einer stattlichen Frau heranwachsen. Ich werde sie in die Geheimnisse meiner Kunst einweihen und sie zu meiner Nachfolgerin erziehen.«
    Der Krieger blickte ihn erstaunt an. »Meine Tochter, eine Medizinfrau? Woher willst du das wissen, Onkel?« Er gebrauchte die respektvolle Anrede des Volkes.
    »Sie wird eine Medizinfrau und noch viel mehr«, antwortete der Schamane, »das haben mir die Geister erzählt. Behandelt sie gut und bereitet sie auf ihre große Aufgabe vor.« Er stand auf und verließ würdevoll das Tipi.

2
Magische Kräfte
    Der Ausrufer verbreitete die Nachricht von der Geburt im ganzen Dorf. Er begann seinen Ritt im Osten des Lagers und lenkte seinen Schecken langsam an den Tipis vorbei. Die Frauen verließen ihre Kochstellen, vom Fluss kamen die Männer und die Kinder herauf und hörten Dachs neugierig zu. Dachs war ein schüchterner Mann und wurde oft wegen seiner Hautkrankheit belächelt, die sein Gesicht wie einen ungeschälten Birkenstamm aussehen ließ. Als Ausrufer kannte er die Befehle des Häuptlings und fast alle wichtigen Neuigkeiten zuerst, deshalb wagte niemand, ihn wegen seiner Krankheit zu hänseln.
    »Hört, was ich euch zu berichten habe«, rief er mit seiner dunklen und weit tragenden Stimme. »Weidenfrau hat eine Tochter geboren. Noch hat sie keinen Namen, aber Sieht-hinter-die-Berge sagt, dass sie seine Nachfolgerin werden soll. Das haben ihm die Geister berichtet. Freut euch mit Büffelhöcker und seinen Frauen, und kommt alle zu seinem Fest. Der tapfere Häuptling der Hundesoldaten wird Geschenke mitbringen, und es wird für jeden genug zu essen geben. Kommt alle!«
    Den anderen Neuigkeiten schenkte kaum jemand Beachtung. Wer wollte schon wissen, dass der hundertjährige Berührt-die-Wolken seine Muschelkette verloren hatte und Läuft-rückwärts seine Donnerlanze vermisste. Die Nachricht von der Geburt des Mädchens und dem bevorstehenden Fest war viel wichtiger. Endlich durfte wieder einmal gefeiert werden. Die Büffel
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