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Das Licht der Toten: Roman (German Edition)

Das Licht der Toten: Roman (German Edition)

Titel: Das Licht der Toten: Roman (German Edition)
Autoren: Cyrus Darbandi
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seist und bereit, ja bereit, für die letzte Konfrontation mit deiner Mutter, eurer Nemesis.
    Stark aber warst du nie, bereit schon gar nicht.
    Nur entsetzlich müde.
    »Tu’s nicht«, sagte Lydia, als sie dir die Adresse gab. »Was auch immer du vorhast, tu’s nicht.«
    Aber sie sprach bereits zu einem toten Mann.
    Der letzte Mensch auf Erden. Der letzte Mensch in Berlin. Du klopfst Sturm in der Gegenwart, und ein Orkan aus der Vergangenheit öffnet dir. Du gibst ihr eine Minute, dann noch eine, bis die Erkenntnis, dass du es bist, wahrhaftig und leibhaftig wie ein Gift in sie einsickert.
    »Du also … dass du noch lebst … deine Schwester war malhier … ist lange her … hat mir nichts von dir erzählt. Wo zum Teufel bist du so lange abgeblieben? Ich hielt dich für tot, aber selbst das hast du nicht hingekriegt.«
    Sie fragt nicht, was du machst. Wie du lebst. Deine Gegenwart ist unwichtig. Für sie zählt nur die Vergangenheit. Als deine Schwester nach Jahren bei ihr auftauchte, war sie bitter enttäuscht. Du warst es, den sie sehen wollte. Sie löcherte Lydia mit Fragen nach deinem Aufenthaltsort. Als Lydia dich ihr verweigerte, wurde sie so handgreiflich wie eh und je. Dabei habt ihr beide euch doch nie wirklich verloren, nicht wahr?
    Und du fragst dich, ob du in ihren Träumen so weiterexistiert hast wie sie in deinen …
    Und du kennst die Antwort: natürlich.
    Ihr sitzt euch gegenüber, und sie lässt die Schnapsflasche kreisen. Je mehr sie in sich hineinschüttet, ungeniert, hemmungslos, außer Kontrolle, desto mehr verwandelt sie sich zurück in die Frau mit den kalten Augen. Die Erinnerung setzt mit einer effizienten Gnadenlosigkeit ein, die Hände der Zeit rücken ihr zerstörtes Gesicht zurecht, glätten die Falten, und auch du stürzt zurück in deine Kindheit. Du wirst kleiner und kleiner in ihrer Gegenwart, während sie größer und stärker wird. Und dann ist es wie gestern, als sie dich mit ihren langen spinnenartigen Fingern berührt und an sich zieht. An ihren Busen, deine Hand in ihren Schoß legt, während sie dich so küsst, wie eine Mutter ihr Kind nicht zu küssen hat. Aber dir geschah es, und es geschieht wieder. Und sie sagt die gleichen Worte, dieselben Aufforderungen, mit ihr etwas zu machen, was ihr gut tut … weil ein Junge seine Mama lieben muss … Doch je länger du ihr zuhörst, desto mehr spürst du die Dämonen in dir anwachsen wie die gerechte Wut aller misshandelten Menschen. Wie kleine, verborgene Tiere flitzen sie in dir umher. Ja, du hast ihr Gesicht noch einmal sehen wollen, die falschen Worte hören aus einem verwüsteten Mund voll fauliger Zähne. Ihr Wein- und Wodka-Atem. Ihre trüben, gelblichen Augen.Sie stinkt wie etwas, das schon vor langer Zeit gestorben ist und sich dieser Erkenntnis hartnäckig verweigert.
    Eine Aussätzige, die sich wie in einem Albtraum durch die toten Zonen des Lebens bewegt.
    Regungslos, rettungslos lässt du ihre Tiraden über dich ergehen. Eigentlich bist du derjenige, der abrechnen sollte, stattdessen ist es, als befreie sie sich von einer jahrelangen Last des Schweigens. Ihre Worte sind wie perfekt geformte Giftpfeile, die dich an ihre Gegenwart nageln. Sie ist Hass, sie war nie etwas anderes, und jetzt, wo sie, vom Alkohol, von der Armut gezeichnet und verwüstet, vor dir hockt und sich regelrecht erbricht, weißt du, dass du ihr niemals wirklich entkommen bist. Nicht mal am Ende der Welt. Du vergräbst das Gesicht in deine Hände. Dein Herz flattert wie ein Kolibri in deinem Brustkorb, stößt sich, schlägt an, blutet, schreit, du zitterst am ganzen Leib, zerfällst unter ihrem Blick, unter diesen Hexenaugen, die nie Liebe und Vernunft kannten, nur Desinteresse, Kälte, Wahnsinn. Alles, was du dir am Ende der Welt, in einer anderen Zeit aufgebaut hast, löst sich auf, wird nichtig, bedeutungslos, du warst ja nie weg, du warst immer hier, dein Leben war nur ein Taumeln, ein Kreiseln um den Ort des Schreckens, den du Kindheit nennst. Du tauchst wieder ein in das tiefe Schwarz.
    Das Nächste, was du wahrnimmst, sind deine Hände um ihren Hals, deine Finger, die sich so stark und tief in ihre trockene, kalte Haut graben, dass sie diese beinahe wie Messerklingen durchbohren.
    Und du denkst, dass du deiner Mutter niemals so nahe warst wie jetzt, nicht mal in den Stunden, in denen sie dich missbrauchte, ihren Körper über deinen wälzte, dein Schreien und deine Tränen zu Stein erstarren ließ, als wäre sie eine Gorgone, die Medusa
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