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Das Licht der Toten: Roman (German Edition)

Das Licht der Toten: Roman (German Edition)

Titel: Das Licht der Toten: Roman (German Edition)
Autoren: Cyrus Darbandi
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begegnen. Er fand es richtiger, zu stehen. Als blicke das Gesetz auf die Niederungen des Verbrechens. Oft genug war es andersherum. Nagy schien seine Gedankengänge nachzuvollziehen, er lächelte süffisant.
    Es machte ihm nichts aus, dass er zu Abraham aufsehen musste. Beiden war klar, wie die Verhältnisse wirklich waren.
    »Nett, dass Sie extra nach London gekommen sind.«
    Nagys Deutsch war klar und angenehm und fast ohne Akzent. »Natürlich hatte ich Ihren Bruder erwartet …«
    »Ich bin nicht hier, um Small Talk zu machen«, stellte Abraham fest, »nur, um einige Dinge zwischen uns festzuhalten.«
    »Sie sind der falsche Ansprechpartner, fürchte ich.«
    »Nun, es gibt keinen anderen.«
    »Sie denken, ich lasse ihn so davonkommen?«
    »Er hat Ihnen nicht geschadet.«
    »Er weiß viel, Ihr Bruder.«
    »Er kann schweigen.«
    »Darauf soll ich mich verlassen?«
    »Ja.«
    »Wie wäre es, wenn Sie statt seiner für mich arbeiten? Viele Polizisten arbeiten für mich.«
    »Ich wäre ein schlechter Mitarbeiter. Ich habe zu viele Skrupel.«
    Das Geld, so Nagy, reichte aus, um Selina aus der Schusslinie zu holen. Was Robert anging, war alles offen.
    »Was sollte mich davon abhalten, nach Robert zu suchen?«
    »Nichts«, sagte Abraham. »Aber Sie sollten wissen, dass ich ebenso gut im Aufspüren von Leuten bin wie Sie. Sie wissen schon, Killern und anderen üblen Gestalten. Ich bin wirklich sehr gut darin, diese Leute zu finden, egal, wo sie sich verstecken. Ich finde sie immer.«
    Er ging zur Tür, drehte sich aber noch einmal zu Nagy um. »Und ohne meinen Dienstausweis bin ich noch viel effektiver. Jemanden, der den Beschränkungen des Gesetzes nicht mehr unterliegt, würde ich sehr ernst nehmen.«
    »Das tue ich, Herr Abraham. Ich unterschätze niemals meine Gegner.«
    »Ich bin nicht Ihr Gegner. Außer Sie verlangen danach.«
    Nagy sagte: »Sie sind genau der harte Bursche, als den Robert Sie mir beschrieben hat.«
    »Wir sind eben Brüder.«
    Er nahm noch in derselben Nacht den nächsten Flug zurück nach Berlin. Sein gebeutelter Toyota stand im Parkhaus und wartete auf ihn. Wenigstens einer.
    Er fuhr zu Lydia. Er rief sie unterwegs an, bereit, bei einem Nein den Blinker zu setzen und in seine grauenhaft leere Wohnung zu fahren, aber sie erlöste ihn mit einem Ja.
    Und dann stand er wieder vor ihr, und sie nahm ihn bei der Hand, und er fragte: »Kann ich mich hier ausruhen?«, und sie sagte: »Mehr als das«, und später, als er sich an ihr wärmte, sagte er: »Wenn du sie hören willst, möchte ich dir eine Geschichte erzählen …«
    Er begann: »Sie handelt von zwei Brüdern …«

KAPITEL
FÜNFZIG
    Polly verließ die Stadt mit dem letzten Geld. Es schmolz wie Schnee in ihrer warmen Hand. Sie faltete die Fahrkarte nach ihrer Entwertung zusammen und drückte sie die ganze lange Fahrt an ihre Brust. Der Zug rollte aus dem Hauptbahnhof Lehrter Platz.
    Schneeregen, bitterkalt, trommelte gegen das Fenster.
    »Hört das irgendwann auf?«
    »Vielleicht ist’s das Ende der Welt. Es fühlt sich jedenfalls so an.«
    Stimmen neben ihr. Gesichter. Zwei junge Frauen in ihrem Abteil, Schattenjahre von ihr entfernt. Waren irgendwann, irgendwo dazugestiegen und stiegen irgendwann, irgendwo wieder aus. Ohne Belang. Bedeutungslos.
    Sie schlief nicht, noch träumte sie, nichts von beidem, und dennoch war sie nicht anwesend. Und paradoxerweise war sie gerade deswegen bei sich.
    Sie ging durch den Schnee, durch den Regen, durch die Nacht; sie ging alleine.
    In der Praxis brannte Licht, der Rest der Straße lag im Dunkeln, das einzige Licht in der Straße, vielleicht das einzige in der Welt, jetzt, im Moment, vielleicht auch für immer. Sie klingelte.
    »Er ist tot, nicht wahr?«, sagte Mevissens Vater, als er ihr noch eine Decke um die Schulter legte.
    »Ja.«
    Es hatte in den Zeitungen gestanden, Polly hatte den Artikel gelesen, aber die Worte waren einfach durch sie hindurchgefallen, Mevissens Vater hingegen war von der Polizei informiert worden, er hatte genickt und so getan, als hätte er wirklich verstanden, was die Beamten ihm mitteilten. Er kam sich vor wie ineinem Traum, aus dem ihn erst Polly befreite, als sie ihm bestätigte, was er immer befürchtet hatte.
    Polly hielt eine Tasse Tee fest und sah an ihm vorbei in das Schneegestöber.
    »Hört der Winter irgendwann auf?«
    »Nun, das tut er immer, nicht wahr? Das haben die Dinge so an sich. Sie kommen, bleiben so lange, wie sie es für nötig halten, und gehen wieder,
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