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Das letzte Theorem

Das letzte Theorem

Titel: Das letzte Theorem
Autoren: Pohl Clarke
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sondern ein ältlicher Mönch namens Surash, der Ranjit beschied - in übertrieben förmlichem Ton, wie er fand -, dass er sich noch ein wenig gedulden müsse. Also wartete Ranjit, eine sehr lange Zeit, wie ihm vorkam, und er konnte nichts anderes tun, als den Geräuschen aus dem Tempel zu lauschen, über den Ranjit eine zwiespältige Meinung hatte.
    Der Tempel verlieh seinem Vater einen Wirkungsbereich, eine geachtete Stellung und ein lohnendes Einkommen, und das alles war natürlich gut. Aber er nährte auch in dem alten Mann die Hoffnung, sein Sohn könne einmal in seine Fußstapfen treten. Doch daran hätte Ranjit im Traum nicht gedacht. Selbst als Knabe hatte er nicht an das komplexe Pantheon der Hindus glauben können, mit seinen zahlreichen Göttern und Göttinnen, einige mit den unterschiedlichsten Tierköpfen und unnatürlich vielen Armen ausgestattet, deren Skulpturen die Tempelwände schmückten. Schon im Alter von sechs Jahren wusste Ranjit den Namen jeder einzelnen Gottheit und kannte ihre besonderen Kräfte und Festtage. Aber
nicht, weil er sich für Religion interessierte; er hatte diese Dinge nur auswendig gelernt, um seinem Vater, den er liebte, eine Freude zu machen.
    Ranjit erinnerte sich daran, wie er als kleiner Junge zu Hause des Morgens aufgewacht war und sein Vater aufstand, um bei Sonnenaufgang im Tempelteich zu baden. Er sah seinen Vater mit nacktem Oberkörper im Wasser stehen, das Gesicht der aufgehenden Sonne zugewandt, und hörte sein langgezogenes, nachhallendes Om . Als er ein bisschen älter war, konnte er selbst ein Mantra intonieren; er kannte die sechs Stellen an seinem Körper, die er berühren musste, und er bot den Statuen im Puja-Raum Wasser dar. Aber dann ging er von zu Hause fort, um eine Schule zu besuchen. Man verlangte von ihm nicht, dass er religiöse Bräuche einhielt, und er hörte auf, sie zu befolgen. Mit zehn Jahren wusste er, dass er den Glauben seines Vaters nie verinnerlichen würde.
    Nicht dass der Beruf seines Vaters ihm missfallen hätte. Gewiss, Ganesh Sumramanians Tempel war weder so alt noch so riesig wie der, den er eigentlich ersetzen sollte. Obwohl man ihm tapfer denselben Namen verliehen hatte wie dem ursprünglichen Bauwerk - Tiru Koneswaram -, bezeichnete selbst sein Oberster Priester ihn meistens nur als »der neue Tempel«. Erst 1983 war er vollendet worden, und von der Größe her reichte er bei weitem nicht an das Original heran, den alten Tiru Koneswaram, den berühmten »Tempel mit den tausend Säulen«, dessen Ursprung im Nebel einer zweitausendjährigen Geschichte versank.
    Und als sich endlich jemand Ranjit näherte, um ihn von seiner Warterei zu erlösen, war es nicht sein Vater, sondern der alte Surash. Er brachte Entschuldigungen vor. »Es sind die Pilger«, erklärte er. »Furchtbar viele! Über einhundert, und dein Vater, der Oberste Priester, will jeden Einzelnen von ihnen begrüßen. Geh nach draußen, Ranjit. Setz dich auf den Swami-Felsen und beobachte das Meer. In einer Stunde wird dein Vater dann vielleicht zu dir kommen, aber bis dahin …« Er
seufzte, schüttelte den Kopf und ging zurück, um Ranjits Vater zu helfen, die Flut der Pilger zu bewältigen. Ranjit blieb sich selbst überlassen.
     
    Was ihm nur recht war, denn eine Stunde lang allein auf dem Swami-Felsen zu verbringen, war für Ranjit ein willkommenes Geschenk.
    Noch vor ungefähr einer Stunde musste es auf dem Swami-Felsen nur so von Menschen gewimmelt haben; er war ein beliebtes Ziel von Ausflüglern, Paaren sowie ganzen Familien, die hier Picknicks veranstalteten, die Umgebung besichtigten oder einfach nur die erfrischende Brise genossen, die von der Bucht von Bengalen herüberwehte. Nun jedoch, als die Sonne hinter den im Westen gelegenen Bergen unterging, war der Ort beinahe menschenleer.
    So gefiel es Ranjit am besten. Er liebte den Swami-Felsen. Sein ganzes Leben lang hatte er ihn geliebt - aber nein, berichtigte er sich in Gedanken, als er sechs oder sieben Jahre alt war, hatte der Felsen selbst ihm nicht annähernd so viel bedeutet wie die ihn umgebenden Lagunen und Strände, wo man kleine Sternschildkröten fangen und sie miteinander um die Wette laufen lassen konnte.
    Doch das war lange her. Jetzt, mit sechzehn, hielt er sich für einen erwachsenen Mann und musste sich mit wichtigeren Dingen beschäftigen.
    Ranjit fand eine freie Steinbank, setzte sich darauf und lehnte sich zurück. Er genoss sowohl die Wärme der tief stehenden Sonne auf seinem Rücken
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