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Das letzte Revier

Das letzte Revier

Titel: Das letzte Revier
Autoren: Patricia Cornwell
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Es ist mir gleichgültig, wie Bev Kiffin reagieren wird. Ich bin beurlaubt, außer Betrieb, suspendiert. Ich weiß nicht, ob ich je wieder als Gerichtsmedizinerin arbeiten werde. Vielleicht werde ich gefeuert und für den Rest meines Lebens gebrandmarkt sein. Womöglich ende ich sogar im Gefängnis. Ich spüre Blicke auf uns, als wir die Treppe vor dem Haus hinaufgehen. »Unheimlicher Ort«, murmelt Lucy.
    Hinter Vorhängen späht ein Gesicht hervor und verschwindet wieder, als Bev Kiffins älterer Sohn merkt, dass ich ihn entdeckt habe. Ich klingle, und der Junge öffnet die Tür, derselbe Junge, den ich sah, als ich zum ersten Mal hier war. Er ist groß und stämmig und hat ein grobes Gesicht voller Pickel. Ich schätze, dass er zwölf, vielleicht vierzehn Jahre alt ist.
    »Sie sind die Frau, die neulich schon mal hier war«, sagt er zu mir und sieht mich böse an.
    »Stimmt«, sage ich. »Kannst du deiner Mutter sagen, dass Dr. Scarpetta da ist und mit ihr sprechen möchte?« Er lächelt, als würde er ein schmutziges Geheimnis kennen, das er für komisch hält. Er unterdrückt ein Lachen. »Sie ist gerade nicht da. Sie ist beschäftigt.« Sein Blick wird hart und wandert zum Motel.
    »Wie heißt du?«, fragt Lucy ihn.
    »Sonny.«
    »Sonny, was ist mit Mr. Peanut passiert?«, frage ich beiläufig. »Dieser dumme Hund«, sagt er. »Wir vermuten, dass ih n jemand gestohlen hat.«
    Unvorstellbar, dass jemand diesen alten, ausgemergelten Hund gestohlen hat. Er verhielt sich gegenüber Fremden unfreundlich. Wenn überhaupt, dann wurde er vielleicht von einem Auto überfahren.
    »Ach ja? Wie schade«, sagt Lucy zu Sonny. »Wir kommst du auf die Idee, dass jemand ihn gestohlen hat?«
    Sonny verhaspelt sich. Sein Blick ist leer, und er versucht es mehrmals mit Lügen, die er wieder abbricht. »Nachts ist ein Auto vorgefahren. Ich hab's gehört, eine Tür wurde zugeschlagen, und der Hund hat gebellt. Das war's. Er war verschwunden. Zack ist ganz aus dem Häuschen deswegen.«
    »Und das war wann?«, will ich wissen.
    »Ach, keine Ahnung.« Er zuckt die Achseln. »Irgendwann letzte Woche.«
    »Benny war auch ganz aus dem Häuschen«, sage ich und beobachte seine Reaktion.
    Wieder dieser Blick. »Die Jungs in der Schule haben ihn Tunte genannt. Und er war auch eine. Deswegen hat er sich umgebracht. Sagen alle«, sagt er mit erstaunlicher Fühllosigkeit.
    »Ich dachte, ihr beide wart befreundet?« Lucy schlägt einen aggressiven Tonfall an.
    »Er hat mich genervt«, antwortet Sonny. »Ständig kam er her, um mit dem verdammten Hund zu spielen. Er war nicht mein Freund. Er war ein Freund von Zack und dem Hund. Ich häng nicht mit Tunten rum.«
    Der Motor eines Motorrads heult auf. Im Fenster rechts neben der Tür taucht Zacks Gesicht auf. Er weint.
    »War Benny letzten Sonntag hier?«, frage ich Sonny. »Nach der Kirche? So gegen halb eins, eins? Hat er Hotdogs mit euch gegessen?« Wieder verhaspelt sich Sonny. Er hat nicht damit gerechnet, dass wir von den Hotdogs wissen, und jetzt ist er hin u nd hergerissen. Die Neugier gewinnt die Oberhand über seine Verlogenheit, und er sagt: »Woher wissen Sie, dass wir Hotdogs gegessen haben?« Er runzelt die Stirn, als das Motorrad über den unbefestigten Weg holpert, der vom Motel zum Haus der Kiffins führt. Wer immer es ist, er fährt direkt auf uns zu, gekleidet in rotes und schwarzes Leder, das Gesicht von dem getönten Visier des Helms verdunkelt. Und doch hat diese Person etwas mir Vertrautes. Ich bin wie vor den Kopf gestoßen, als Jay Talley anhält und absteigt, behände ein Bein über den Sitz schwingt.
    »Sonny, geh ins Haus«, befiehlt ihm Jay. »Sofort«, sagt er kühl und entspannt, als würde er den Jungen gut kennen. Sonny zieht sich ins Haus zurück und schließt die Tür. Zacks Gesicht ist aus dem Fenster verschwunden. Jay nimmt seinen Helm ab. »Was machst du hier?«, fragt Lucy ihn, und in der Ferne sehe ich Bev Kiffin auf uns zukommen. Sie hat ein Gewehr und nähert sich uns aus der Richtung des Motels, in dem sie mit Jay gewesen sein muss. In meinem Kopf geht eine rote Flagge nach der anderen hoch, aber weder Lucy noch ich ziehen die Verbindung schnell genug. Jay macht den Reißverschluss seiner dicken Lederjacke auf und hält nahezu im selben Moment lässig eine schwarze Pistole in der Hand.
    »Himmel«, sagt Lucy. »Um Himmels willen, Jay.«
    »Ich wünschte wirklich, du wärst nicht hierher gekommen«, sagt er in ruhigem, kaltem Tonfall zu mir. »Das wünschte
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