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Das letzte Revier

Das letzte Revier

Titel: Das letzte Revier
Autoren: Patricia Cornwell
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Loup-Garou oder Der Werwolf, wie er sich selbst nennt -besser behandelt wird als ich. Das Gesetz gesteht Menschen wie ihm jedes nur erdenkliche Menschenrecht zu: Komfort, Diskretion, freie Kost und Logis, kostenlose medizinische Versorgung auf der gerichtsmedizinischen Station des Medical College of Virginia, dessen Fakultät ich angehöre.
    Marino hat während der letzten vierundzwanzig Stunden weder geschlafen noch geduscht. Als ich an ihm vorbeigehe, schlägt mir Chandonnes widerwärtiger Körpergeruch entgegen und ich verspüre augenblicklich Übelkeit, mein Magen krampft sich so zusammen, dass ich nicht mehr denken kann und mir der kalte Schweiß ausbricht. Ich richte mich auf und atme tief durch, um diese olfaktorische Halluzination zu verscheuchen, während sich meine Aufmerksamkeit auf ein Auto richtet, das draußen auf der Straße verlangsamt. Ich bemerke inzwischen jede kleinste Veränderung der Verkehrsgeräusche und weiß, wen n ein Auto vor meinem Haus hält. Es ist ein Rhythmus, auf den ich seit Stunden horche. Die Leute glotzen. Die Nachbarn verrenken sich den Hals und bleiben mitten auf der Straße stehen. Ich drehe mich in einem unheimlichen Kreis virulenter Emotionen, bin in einem Augenblick verwirrt und im nächsten ängstlich. Ich schwanke zwischen Erschöpfung und Manie, zwischen Depression und Gelassenheit, und darunter brodelt es, als wäre mein Blut mit Kohlensäure versetzt.
    Draußen wird eine Autotür zugeschlagen.
    »Und jetzt«, protestiere ich, »wer ist es diesmal? Das FBI?« Ich ziehe eine weitere Schublade auf. »Marino, ich habe genug.« Ich mache eine verächtliche Geste. »Schaff sie aus meinem Haus, alle. Sofort.« Wut flirrt wie eine Fata Morgana über heißem Asphalt. »Damit ich fertig packen und von hier verschwinden kann. Können die nicht wenigstens so lange abhauen, bis ich hier fertig bin?« Meine Hände zittern, während ich in Socken wühle. »Es ist schlimm genug, dass sie sich in meinem Garten rumtreiben.« Ich werfe ein Paar Socken in die Reisetasche. »Schlimm genug, dass sie überhaupt hier sind.« Noch ein Paar. »Sie können wiederkommen, wenn ich weg bin.« Ich werfe ein weiteres Paar Socken, verfehle die Tasche und bücke mich, um es aufzuheben. »Sie könnten mir zumindest gestatten, mich in meinem eigenen Haus frei zu bewegen.« Noch ein Paar. »Und mich ungestört packen und gehen lassen.« Ich lege ein Paar zurück in die Schublade. »Was zum Teufel haben sie in meiner Küche zu suchen?« Ich überlege es mir anders und nehme die Socken, die ich gerade zurückgelegt habe, wieder heraus. »Warum sind sie in meinem Arbeitszimmer? Ich habe ihnen doch gesagt, dass er dort nicht drin war.«
    »Wir müssen uns umsehen, Doc.« Mehr hat Marino dazu nicht zu sagen.
    Er setzt sich auf das Fußende meines Betts, und auch das ist verkehrt. Am liebsten möchte ich ihm sagen, dass er von meinem Bett runter und das Schlafzimmer verlassen soll. Ic h muss mich beherrschen, um ihn nicht aus meinem Haus und möglichst noch aus meinem Leben zu schmeißen. Es spielt keine Rolle, dass wir uns lange kennen und viel gemeinsam durchgemacht haben.
    »Was macht der Ellbogen, Doc?« Er deutet auf meinen eingegipsten linken Arm, der absteht wie ein Ofenrohr.
    »Er ist gebrochen und tut höllisch weh.« Ich knalle die Schublade zu.
    »Nimmst du deine Medizin?«
    »Ich werd's überleben.«
    Er lässt mich keinen Augenblick aus den Augen. »Du musst das Zeug nehmen, das sie dir gegeben haben.«
    Wir haben plötzlich vertauschte Rollen. Ich verhalte mich wie der ungehobelte Polizist, während er so logisch und ruhig argumentiert wie die Juristin-Ärztin, die ich eigentlich bin. Ich betrete wieder den begehbaren Schrank aus Zedernholz, hole Blusen heraus und lege sie in den Kleidersack, überprüfe, ob die obersten Knöpfe zugeknöpft sind, streiche mit der rechten Hand Seide und glänzende Baumwolle glatt. In meinem linken Ellbogen pocht es wie in einem entzündeten Zahn, meine Haut unter dem Gips schwitzt und juckt. Ich habe den Tag größtenteils im Krankenhaus verbracht - nicht, dass das Eingipsen eines Armes eine sehr langwierige Prozedur wäre, aber die Ärzte bestanden darauf, mich sorgfältig zu untersuchen, um sicherzugehen, dass ich keine anderen Verletzungen habe. Ich erklärte wiederholt, dass ich bei meiner Flucht die Treppe vor dem Haus hinuntergefallen sei und mir dabei den Ellbogen gebrochen hätte, nichts weiter. Jean-Baptiste Chandonne hatte keine Gelegenheit, mich
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