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Das letzte Kind

Das letzte Kind

Titel: Das letzte Kind
Autoren: John Hart
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die aufgerissenen Augen und das glänzende, ausgelaugte Gesicht des Mannes; dann klappte er das Messer zu und steckte es ein.
    Der Fahrer entspannte sich und schaute wieder eine ganze Weile unverwandt nach vorn auf die Straße. Der Junge kam ihm bekannt vor, aber das Gefühl verging gleich wieder. Dreißig Jahre. Er ließ seinen massigen Körper tiefer in den Sitz sinken.
    Er hatte schon so viele Jungen gesehen.
    So viele, die wegliefen.
    Immer, wenn der Fahrer ihn ansah, spürte der Junge es. Das war eine Begabung, die er hatte, ein Talent. Trotz der dunklen Sonnenbrille und der weiten Wölbung im Rückspiegel konnte er es spüren. Es war seine dritte Fahrt mit diesem Bus, die dritte in drei Wochen. Er saß immer auf einem anderen Platz und trug immer andere Kleidung, aber vermutlich würde ihn früher oder später jemand fragen, wieso er um sieben Uhr morgens an einem Schultag mit dem Bus quer durch den Staat fuhr. Und er nahm an, die Frage würde vom Fahrer kommen.
    Aber noch war sie nicht gekommen.
    Der Junge schaute aus dem Fenster und drehte die Schultern so, dass niemand mehr versuchen würde, ihn anzusprechen. Er beobachtete die Spiegelungen im Glas, die Bewegungen und die Gesichter. Er dachte an himmelhohe Bäume und braune Federn mit Schnee auf den Spitzen.
    Das Messer lag wie ein Klumpen in seiner Tasche.
    Vierzig Minuten später stoppte der Bus wippend vor einer einräumigen Tankstelle irgendwo in der endlosen Weite aus Kiefern, Gestrüpp und heißer, sandiger Erde. Der Junge schob sich durch den Gang nach vorn und sprang von der unteren Stufe, bevor der Fahrer erwähnen konnte, dass auf dem Parkplatz nichts als ein Abschleppwagen wartete und dass kein Erwachsener da war, der den Jungen in seine Obhut nehmen konnte — einen Dreizehnjährigen, der aussah, als sei er gerade zehn. Der Junge hielt den Kopf abgewandt, sodass ihm die Sonne in den Nacken brannte, und hüpfte ein paarmal, um den Rucksack auf seinem Rücken zurechtzuschieben. Eine Dieselwolke stieg auf, der Bus setzte sich schaukelnd in Bewegung und rollte in Richtung Süden davon.
    Die Tankstelle bestand aus zwei Zapfsäulen, einer langen Bank und einem dürren alten Mann in einem ölfleckigen blauen Overall. Der Mann nickte nur hinter der verschmierten Glasscheibe und kam nicht heraus in die Hitze. Der Getränkeautomat im Schatten des Gebäudes war so alt, dass der Preis auf dem Schild nur fünfzig Cent betrug. Der Junge wühlte fünf dünne Zehn-Cent-Münzen aus der Tasche und wählte ein Traubensoda. Die kalte Glasflasche polterte unten aus dem Schacht. Er hebelte den Kronkorken herunter, schlug die Richtung ein, aus der der Bus gekommen war, und ging auf der staubigen Straße davon, die sich vor ihm wand wie eine schwarze Schlange.
    Nach drei Meilen und zwei Kurven verschlechterte sich die Straße; aus Asphalt wurde Schotter, und der Schotter wurde spärlich. Das Schild hatte sich nicht verändert, seit er es zuletzt gesehen hatte. Es war alt und verwittert, und die abblätternde Farbe hob sich wie Federn von dem Holz darunter: ALLIGATOR RIVER RAUBVOGEL-SCHUTZGEBIET. Über den Lettern schwebte ein stilisierter Adler, und auch von seinen Schwingen spreizten sich die Federn aus Farbe.
    Der Junge spuckte ein Kaugummi in die flache Hand und klatschte es im Vorbeigehen auf das Schild.
    Er brauchte zwei Stunden, um ein Nest zu finden. Zwei Stunden voller Schweiß und Dornenbüsche und Moskitos, die seine Haut mit leuchtend roten Flecken bedeckten. Er entdeckte das dichte Gewirr aus Zweigen in den oberen Ästen einer Pechkiefer, die kerzengerade und hoch aus dem feuchten Boden am Flussufer wuchs. Zweimal ging er um den Baum herum, aber er fand keine Federn auf dem Boden. Sonnenstrahlen spießten sich durch den Wald, und der Himmel war so hell und blau, dass ihm die Augen schmerzten. Das Nest war ein Punkt in der Höhe.
    Er streifte den Rucksack ab und fing an zu klettern. Raue Rinde scheuerte an seiner sonnenverbrannten Haut. Wachsam und voller Angst hielt er beim Klettern Ausschau nach dem Adler. Ein ausgestopfter stand auf einem Sockel im Museum in Raleigh, und er sah wild aus. Die Augen waren aus Glas, aber die Schwingen hatten eine Spannweite von anderthalb Metern, und die Krallen waren so lang wie der Mittelfinger des Jungen. Der Schnabel konnte einem erwachsenen Mann die Ohren abreißen.
    Er wollte nur eine Feder. Am liebsten eine saubere, weiße Schwanzfeder oder eine der riesigen braunen Federn aus der Schwinge, aber letzten Endes würde
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