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Das letzte Kind

Das letzte Kind

Titel: Das letzte Kind
Autoren: John Hart
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den Seiten durchzogen von ein paar neuen silbernen Fäden. Sein Gesicht war schmaler geworden, und in einem Winkel seines Herzens erkannte Johnny, dass das Jahr für ihn ebenfalls hart gewesen war. So groß der Cop auch war, er wirkte niedergedrückt und gehetzt. Aber so sah in Johnnys Augen fast die ganze Welt aus, und deshalb war er nicht sicher. Die Stimme des Mannes klang tief und teilnahmsvoll. Sie weckte so viele schlimme Erinnerungen, dass Johnny sich einen Augenblick lang weder rühren noch sprechen konnte. Der Cop kam näher und zeigte den nachdenklichen Gesichtsausdruck, den Johnny so oft gesehen hatte, den gleichen sanften, sorgenvollen Blick. Ein Teil seiner selbst hätte den Mann gerne gemocht und ihm vertraut, aber es war immer noch derselbe Mann, der zugelassen hatte, dass Alyssa sich in nichts auflöste. Er war immer noch derjenige, der sie verloren hatte.
    »Ganz gut«, sagte Johnny. »Sie wissen schon. Man schlägt sich durch.«
    Der Cop warf einen Blick auf die Uhr, dann auf Johnnys schmuddelige Kleider und sein ungebärdiges schwarzes Haar. Es war zwanzig vor sieben an einem Schultag. »Was von deinem Vater gehört?«, fragte er.
    »Nein.« Johnny bemühte sich, die plötzliche Scham zu verbergen. »Nichts.«
    »Das tut mir leid.«
    Der Augenblick dehnte sich in die Länge, aber der Cop rührte sich nicht. Der Blick seiner braunen Augen blieb fest, und aus der Nähe sah er noch genauso groß und ruhig aus wie beim ersten Mal, als er in Johnnys Haus gekommen war. Aber das war eine andere Erinnerung, und deshalb starrte Johnny das breite Handgelenk des Mannes an, die sauberen, stumpfen Fingernägel. Seine Stimme war brüchig, als er sprach. »Meine Mutter hat einmal einen Brief gekriegt. Sie sagt, er war in Chicago und wollte vielleicht nach Kalifornien.« Er schwieg, und sein Blick wanderte von der Hand zum Boden. »Der kommt schon wieder.«
    Johnny sagte es ohne Überzeugung. Der Cop nickte einmal und wandte den Kopf ab. Spencer Merrimon war zwei Wochen nach der Entführung seiner Tochter verschwunden. Zu viel Schmerz. Zu viele Schuldgefühle. Seine Frau ließ ihn keinen Augenblick lang vergessen, dass er das Mädchen hatte abholen sollen, ließ ihn nie vergessen, dass das Kind niemals in der Abenddämmerung die Straße entlanggegangen wäre, wenn er getan hätte, was er hätte tun sollen.
    »Es war nicht seine Schuld«, sagte Johnny.
    »Das habe ich nie behauptet.«
    »Er hat gearbeitet. Er hat nicht auf die Zeit geachtet. Es war nicht seine Schuld.«
    »Wir alle machen Fehler, mein Junge. Jeder von uns. Dein Vater ist ein guter Mann. Daran darfst du niemals zweifeln.«
    »Tu ich nicht.« Johnny klang plötzlich gereizt.
    »Ist okay.«
    »Das würde ich niemals tun.« Johnny spürte, dass die Farbe aus seinem Gesicht wich. Er wusste nicht, wann er das letzte Mal so viel zu einem Erwachsenen gesagt hatte, doch der Cop hatte irgendetwas an sich. Er war steinalt, bestimmt vierzig, aber er überstürzte nie etwas, und sein Gesicht hatte etwas Warmes, eine Freundlichkeit, die nicht gespielt wirkte, nicht dazu gedacht, einen Jungen auszutricksen, damit er ihm vertraute. Seine Augen waren immer still, und im Grunde seines Herzens hoffte Johnny, dass der Mann als Polizist gut genug war, um noch alles in Ordnung zu bringen. Aber inzwischen war ein Jahr vergangen, und seine Schwester war nach wie vor verschwunden. Johnny musste sich um die Gegenwart kümmern, und in der Gegenwart war dieser Cop kein Freund.
    Da war das Jugendamt, das nur auf einen Vorwand wartete. Dazu kam das, was Johnny tat und wohin er ging, wenn er die Schule schwänzte — die Risiken, die er einging, wenn er sich nach Mitternacht hinausschlich. Wenn der Cop wüsste, was Johnny tat, wäre er gezwungen, etwas zu unternehmen. Pflegeeltern. Gericht.
    Er würde Johnny stoppen, wenn er könnte. »Wie geht's deiner Mom?«, fragte der Cop. Sein Blick war durchdringend, und seine Hand lag auf dem Einkaufswagen. »Müde«, sagte Johnny. »Lupus, wissen Sie. Sie wird schnell müde.« Zum ersten Mal runzelte der Cop die Stirn. »Beim letzten Mal, als ich dich hier gefunden habe, hast du gesagt, sie hat die Lyme-Krankheit .«
    Er hatte recht. »Nein. Lupus, habe ich gesagt.«
    Der Blick des Cops wurde milder, und er nahm die Hand vom Wagen. »Es gibt Leute, die helfen wollen. Leute, die das verstehen.«
    Plötzlich war Johnny wütend. Niemand verstand es, und niemand bot seine Hilfe an. Nie. »Sie ist nur ein bisschen angeschlagen.
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