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Das letzte Experiment

Das letzte Experiment

Titel: Das letzte Experiment
Autoren: Philip Kerr
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Ärzten nicht gerade sagen kann, dachte ich und war ein bisschen erleichtert.
    Er entschuldigte sich in fast perfektem Deutsch dafür, dass er uns hatte warten lassen, dann bot er uns Zigaretten aus einer silbernen Schatulle an. Er schüttelte uns die Hand, ich spürte den kräftigenHandteller und dachte wieder an einen Boxer. Deshalb und weil ich die geplatzten Äderchen unter seinen Wangenknochen sah sowie die Zahnplatte, die sein angenehmes Lächeln freilegte. In einem Land, in dem niemand Sinn für Humor besitzt, ist ein lächelnder Mensch ein König. Ich lächelte zurück, dankte ihm für seine Gastfreundschaft und machte ihm Komplimente für sein Deutsch – auf Spanisch.
    «Nein, bitte», antwortete Perón, wieder auf Deutsch. «Ich spreche sehr gern Deutsch, und es ist eine gute Übung für mich. Als ich ein junger Kadett an der Militärakademie war, hatten wir ausschließlich deutsche Ausbilder. Das war vor dem Ersten Weltkrieg, im Jahr 1911.   Wir mussten alle Deutsch lernen, weil unsere Waffen aus Deutschland kamen und die Handbücher und technischen Anleitungen auf Deutsch geschrieben waren. Wir lernten sogar den Stechschritt. Jeden Abend um sechs Uhr kommen meine Grenadiere im Stechschritt auf die Plaza de Mayo, um die Flagge vom Mast zu holen. Das müssen Sie sich unbedingt einmal mit mir zusammen ansehen.»
    «Sehr gern, Herr Präsident.» Ich ließ mir von ihm Feuer geben. «Ich denke allerdings, für mich selbst ist es mit dem Stechschritt vorbei. Heutzutage schaffe ich es gerade noch, eine Treppe hochzusteigen, ohne außer Atem zu kommen.»
    «Bei mir ist es genauso.» Perón grinste. «Aber ich versuche auf meine Gesundheit zu achten. Ich reite, und ich fahre gern Ski, wenn ich die Zeit dazu finde. 1939 war ich in den Alpen zum Skilaufen, in Österreich und Deutschland. Deutschland war ein wundervolles Land damals, wie eine gutgeölte Maschine, ein großer Mercedes-Benz. Alles lief glatt und vibrierte vor Kraft, und es war aufregend. Ja, es war eine bedeutsame Zeit in meinem Leben.»
    «Ja, Herr Präsident.» Ich lächelte ihn strahlend an, als spräche er mir aus der Seele. Tatsache war, dass ich den Anblick von Soldaten im Stechschritt hasste. Für mich waren Soldaten im Stechschritt einer der unerfreulichsten Anblicke der Welt, etwas, das albern undfurchteinflößend zugleich wirkte, sodass einem das Lachen im Hals steckenblieb. Und was das Jahr 1939 anging – so war es wohl für ziemlich viele Leute ein bedeutsames gewesen. Ganz besonders, wenn man Pole oder Franzose oder Brite oder gar Deutscher war. Wer in Europa würde 1939 je vergessen?
    «Wie stehen die Dinge in Deutschland zurzeit?», fragte Perón.
    «Für gewöhnliche Leute sind die Zeiten sehr hart», antwortete ich. «Doch es kommt auch darauf an, in welcher Zone man sich befindet. Am schlimmsten von allen ist die sowjetische Besatzungszone. Wo die Iwans das Sagen haben, ist es für niemanden leicht. Nicht mal für die Iwans selbst. Die meisten Menschen wollen den Krieg einfach nur hinter sich bringen und mit dem Wiederaufbau vorankommen.»
    «Es ist erstaunlich, was in so kurzer Zeit erreicht wurde», sagte Perón.
    «Ich meine nicht nur den Wiederaufbau unserer Städte, Herr Präsident», sagte ich. «Obwohl das selbstverständlich auch wichtig ist. Nein, ich meine vielmehr die Rekonstruktion unserer grundlegenden Institutionen und Überzeugungen. Freiheit. Gerechtigkeit. Demokratie. Ein Parlament. Eine verlässliche Polizei. Unabhängige Gerichte. Und wenn wir all das wiederhaben, gelingt es uns vielleicht sogar, ein wenig Selbstachtung zurückzugewinnen.»
    Perón kniff die Augen zusammen. «Ich muss schon sagen, Sie klingen nicht wie ein Nazi», stellte er fest.
    «Es ist fünf Jahre her, Herr Präsident, seit wir den Krieg verloren haben», antwortete ich. «Sinnlos, über das nachzudenken, was nicht mehr ist. Deutschland muss den Blick in die Zukunft richten.»
    «Das ist es, was wir in Argentinien brauchen!», sagte Perón. «Nach vorn gerichtetes Denken! Ein wenig vom deutschen Optimismus, oder, Fuldner?»
    «Absolut, Herr Präsident.»
    «Wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf, Herr Präsident»,sagte ich. «Nach allem, was ich bisher gesehen habe, gibt es nichts, was die Argentinier von Deutschland lernen könnten.»
    «Argentinien ist ein sehr katholisches Land, Dr.   Hausner», klärte Perón mich auf. «Das tägliche Leben ist festgefahren. Wir benötigen modernes Denken. Wir brauchen Wissenschaftler.
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