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Das letzte Experiment

Das letzte Experiment

Titel: Das letzte Experiment
Autoren: Philip Kerr
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Marmortreppe standen zwei Grenadiere mit hohen Kopfbedeckungen und gezogenen Säbeln. Sie erinnerten mich an eine Illustration aus einem alten Kindermärchen. Ich sah hinauf zu der loggiaartigen oberen Galerie, halb in der Erwartung, dort Zorro zu entdecken, der sich zu einer Fechtstunde einfand.
    Stattdessen erblickte ich eine hübsche, zierliche Blondine, die uns interessiert beobachtete. Sie trug mehr Diamanten, als um diese frühe Stunde schicklich schien, dazu eine formidable Dauerwelle.
    «Das ist sie», sagte Fuldner. «Evita. Die Frau des Präsidenten.»
    «Irgendwie dachte ich mir schon, dass sie nicht die Putzfrau ist.»
    Wir stiegen die Treppe hinauf und gelangten in eine luxuriös eingerichtete Halle, in der mehrere Frauen umherliefen. Trotz der Tatsache, dass die Herrschaft Peróns eine Militärdiktatur war, sahen wir hier oben niemanden in Uniform. Auf eine diesbezügliche Bemerkung meinerseits erwiderte Fuldner, dass Perón nichts von Uniformen hielt und eine gewisse Ungezwungenheit vorzog, die manch einen Besucher überraschte. Ich stellte fest, dass die Frauen in der Halle alle überdurchschnittlich schön waren und Perón und ich in dieser Hinsicht offenbar denselben Geschmack hatten. Aber eine Laufbahn wie Peróns war für mich immer ausgeschlossen gewesen – allein wegen meines ausgeprägten Gerechtigkeitssinns und meines unbedingten Glaubens an die Demokratie.
    Allem Anschein nach saß der Präsident nicht bereits frühmorgens um sieben hinter seinem Schreibtisch, wie Fuldner erzählt hatte. Und während wir auf ihn warteten, brachte uns eine seiner Sekretärinnen Kaffee auf einem kleinen silbernen Tablett. Wir rauchten. Die Sekretärinnen rauchten ebenfalls. Alle in Buenos Aires rauchten. Es kam mir vor, als qualmten in Buenos Aires selbst Hunde und Katzen ihre Zwanziger-Packung am Tag weg.
    Schließlich vernahm ich hinter den hohen Fenstern Motorengeräusch. Ich stellte meine Kaffeetasse ab und stand auf. Ich sah, wie ein hochgewachsener Mann von einem Motorroller stieg. Es war der Präsident, da war ich mir sicher, obwohl ich das an seinem bescheidenen Transportmittel kaum hätte erkennen können, genauso wenig wie an seiner bequemen Kleidung. Ich versuchte mir vorzustellen, wie Hitler in Golfkleidung auf einem hellgrünen Motorroller die Wilhelmstraße entlangknatterte.
    Der Präsident parkte seinen Roller und kam die Treppe hinauf, indem er immer zwei Stufen auf einmal nahm. Er trug derbe englische Straßenschuhe. Er mochte aussehen wie ein Golfspieler mit seinem Hut und der braunen Reißverschluss-Strickjacke, den braunen Knickerbockern und den dicken Wollsocken, doch er hatte diesportliche Statur eines Boxers. Nicht ganz eins achtzig groß, mit glatt zurückgekämmtem schwarzem Haar und einer Nase, die römischer war als das Kolosseum, erinnerte er mich an Primo Carnera, den italienischen Schwergewichtler. Sie waren auch ungefähr im gleichen Alter. Ich schätzte Perón auf Anfang fünfzig. Das schwarze Haar sah aus, als würde es jeden Tag getönt und poliert, mit demselben Zeugs, mit dem die Grenadiere ihre Stiefel wienerten.
    Eine der Sekretärinnen reichte ihm ein paar Zeitungen, während eine andere die Doppeltür zu seinem Büro aufhielt. Die Einrichtung dahinter war, wie man sich das Amtszimmer eines Diktators vorstellt: Massen von Reiterbronzen, Eichenpaneele, noch nicht ganz trockene Porträts in Öl, kostspielige Läufer und korinthische Säulen. Perón bedeutete uns, dass wir auf den ledernen Armsesseln Platz nehmen durften, warf die Zeitungen auf einen Schreibtisch von gewaltiger Größe und übergab Hut und Jacke einer weiteren Sekretärin, die seine Garderobe so inbrünstig an ihren nicht kleinen Busen drückte, dass man meinen konnte, sie wünschte, sie hielte Perón selbst im Arm.
    Eine Sekretärin brachte ihm eine Demitasse Kaffee, ein Glas Wasser, einen goldenen Füllfederhalter und eine goldene Zigarettenspitze mit einer brennenden Zigarette darin. Perón nahm einen Schluck Kaffee, zog an der Zigarette, nahm den Füllfederhalter zur Hand und begann, die Dokumente zu unterzeichnen, die man ihm zuvor auf den Schreibtisch gelegt hatte. Ich konnte von dort, wo ich saß, seine Unterschrift erkennen. Das geschwungene, egoistische J, der aggressive, finale Abstrich beim n von Perón. Der Handschrift nach zu urteilen, war der Mann ziemlich neurotisch, einer, der die Kontrolle nicht abgibt – die Leute sollten auf jeden Fall sofort kapieren, was er schreibt. Was man ja von
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