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Das Leben in 38 Tagen

Das Leben in 38 Tagen

Titel: Das Leben in 38 Tagen
Autoren: Cornelia Scheidecker
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blassgelbem
Papier hervor, so dass sie wie aus dem letzten Jahrhundert wirkte. Ich ließ mir
gleich noch eine Papprolle dafür geben und gab sie nach ausgiebiger Bewunderung
zusammen mit meinem Gepäck erst einmal zur Aufbewahrung in einem Nebenraum ab.
Da standen sie nun, die vielen Rucksäcke und Stöcke, und hätten von unzähligen
Erlebnissen erzählen können, wenn sie es gekonnt hätten...
    Als
mir Sonja ihre Urkunde zeigte, staunte ich. Diese war ganz einfach ohne
Verzierung und in spanischen Druckbuchstaben ausgefertigt. „Warum hast du denn
eine andere Urkunde?“, fragte ich. „Na, weil ich 3. , ,nur aus anderen Gründen’, angekreuzt habe. Die Frau hinter dem Schalter hat mir
zwar extra noch erklärt, dass ich dann keine lateinische Originalurkunde mit
dem Jakobus bekommen würde. Aber das ist mir doch egal. Ich schreibe es so, wie
es ist!“ Das war typisch Sonja. Dafür mochte ich sie. Sie war zwar laut und
redselig, aber stets offen und ehrlich. Lieber verzichtete sie auf etwas, wenn
sie sich dafür hätte verbiegen müssen. Ich weiß nicht, was sie auf dem Weg
gesucht hatte. Wer wusste das wohl schon so genau? Manchmal hatte ich den
Eindruck, dass sie auf Männerfang war; so gern, wie sie die Männer ansprach . Aber vielleicht wollte sie sich auch nur aushalten
lassen, weil sie so wenig Geld hatte. Oder ihre burschikose Art und die
scheinbare Suche nach Oberfläche war nur Maskerade und in Wirklichkeit suchte
sie etwas ganz anderes. Bisher hatte sie vor allem schlechte Erfahrungen mit
anderen Menschen gemacht, besonders in ihrer Familie. Daher ließ sich auch ihr
offensichtlicher Sarkasmus erklären. Vielleicht suchte sie einfach Abstand und
nebenbei einen ehrlichen, zuverlässigen Menschen, so wie sie selbst in ihrem
tiefsten Inneren auch war? Sie hatte sich zwar häufig lustig gemacht über meine
eher konservativen Ansichten, besonders was Männer anging, aber vielleicht
hatte es sie ja auch manchmal zum Nachdenken angeregt...
    Als
wir beide aus dem Pilgerbüro heraustraten, zeigte die große Turmuhr 10.30 Uhr.
Wir hatten also noch viel Zeit bis zur Messe und beschlossen, etwas trinken zu
gehen. Gleich neben der Kathedrale setzten wir uns vor einem Café in die Sonne
und genossen das letzte Mal zusammen ein Glas Rotwein. Zur Feier des Tages fand
ich es durchaus angemessen, auch an einem Vormittag schon Rotwein zu trinken.
Wir stießen noch einmal auf uns und unseren langen Weg an und langsam füllten
sich die Stühle mit anderen Pilgern oder Zeitung lesenden Spaniern. Sonja hatte
sich zu meiner Freude nun doch entschieden, mit mir zur Messe zu kommen, und
jetzt konnten wir gelassen die Menschen und die Umgebung beobachten. Bisher
hatten wir leider nur wenige Bekannte getroffen, aber ich hoffte auf die Messe!
    Gegen
11.30 Uhr machten wir uns auf zum Eingang der Kathedrale, und ehe wir uns
versahen, befanden wir uns von Menschen umringt in dem beeindruckenden
Kirchenschiff. Auf einmal waren wir froh, noch einen Sitzplatz zu ergattern,
denn im Nu waren alle Bänke gefüllt und sehr viele Pilger oder Reisegruppen
mussten sich mit Stehplätzen begnügen. In den Beichtstühlen neben den Bänken
nahmen Mönche den willigen Pilgern die Beichte in allen möglichen Sprachen ab.
Ein flüsterndes, vielsprachiges Stimmengewirr umgab uns.
    Nun
sah ich auch Bekannte in den Bänken um uns herum, die sich ebenso aufgeregt wie
ich umschauten: Helga und Alfred, Christa und Hermann, Annemarie aus Kiel, Gerold,
Debbie aus Kanada mit ihrem holländischen Freund, einen Pilger, der wie Chris
aussah...
    Endlich
setzte feierliche Orgelmusik ein, die Aufregung ebbte ab und machte innerer
Rührung Platz. Eine Frauenstimme verlas die Anzahl der Pilger aus den verschiedenen
Ländern, die heute in Santiago angekommen waren. Einige wurden auf Wunsch sogar
mit Namen aufgerufen. Ich fand es schon unheimlich ergreifend, als die
Frauenstimme vorlas: „... sind heute hier angekommen: fünf Deutsche und drei
Österreicher aus St.-Jean-Pied-de-Port!“ Da war ich dabei. Hermann, Christa und
ich! Wir hatten es geschafft! Das Gefühl war überwältigend; wir gehörten nun
zur besonderen Schar der Pilger, die den gesamten Weg gelaufen waren. In diesem
Moment konnte man nicht glücklicher sein.
    Die
Messe war ergreifend und feierlich, obwohl man kein Wort verstand. Viele Pilger
gingen zur Kommunion, und als mein Blick auf Sonja neben mir fiel, glaubte ich
meinen Augen nicht zu trauen. Sie weinte! Ihr liefen die Tränen die
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