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Das Land zwischen den Meeren

Das Land zwischen den Meeren

Titel: Das Land zwischen den Meeren
Autoren: Anna Paredes
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vermutete, er wolle mit dem lauten Gehabe lediglich von seiner geringen Körpergröße ablenken. Denn der überaus eitle Herr Advokat reichte ihr trotz erhöhter Schuhsohlen gerade einmal bis zum Kinn.
    Tadelnd blickte Moritz auf seine Schwester hinunter. »Putz dir endlich die Nase. Das Geschniefe ist ja nicht zum Aushalten. Und etwas deutlicher könntest du auch sprechen.« Er zog ein zerknülltes Leintuch aus dem Wams und hielt es Maria hin. Die schüttelte nur den dunklen Lockenkopf und wischte sich mit dem Ärmel ihres hellblauen Musselinkleides über das Gesicht.
    »Bäh, den Lappen nehme ich nicht. Der ist ja dreckig … Nun sag schon, Fräulein Lehrerin, was siehst du auf dem Bild?«
    Wegen ihrer zwei fehlenden Vorderzähne sprach Maria seit einigen Tagen in einem drolligen Lispelton, der Dorothea zu einem unwillkürlichen Lächeln veranlasste. Rasch wandte sie sich zur Seite, damit ihre Zöglinge nichts bemerkten. Sie zog ein frisch gebügeltes Taschentuch für die Kleine aus ihrer Rocktasche. Maria schnaubte kräftig hinein und stopfte sich das Tuch nachlässig ins Mieder.
    Dorothea drehte das Bild in den Händen und betrachtete das Liniengewirr mit zusammengekniffenen Augen. Sagte sie etwas Falsches, so wäre Maria enttäuscht und würde womöglich die Abendmahlzeit verweigern. Und Moritz könnte sich wieder einmal als der überlegene ältere Bruder bestätigt fühlen. Ohnehin war er der Stolz des Vaters, der viel lieber zwei Jungen gehabt hätte und mit der quirligen Tochter wenig anfangen konnte. Aber Dorothea mochte die fröhliche, unbekümmerte Kleine, die so offensichtlich um Aufmerksamkeit und Lob buhlte.
    »Lass einmal sehen, es könnte vielleicht …« Dorothea blinzelte über den Blattrand und achtete genau auf Marias Gesichtsausdruck. »… es könnte ein Engel sein …« Das Mädchen zog einen Flunsch und schniefte, fuhr sich mit dem Ärmel über die Nase. Dorothea dachte angestrengt nach, ob sie in den letzten Unterrichtsstunden ein Thema durchgenommen hatte, das der Kleinen besonders gut gefallen hatte. Ja, natürlich, sie hatte den Kindern von Maria Sibylla Merian erzählt, die vor hundertneunzig Jahren schon als junges Mädchen Seidenraupen gezüchtet hatte.
    Maria hatte mit offenem Mund dagesessen und nicht genug von der Entwicklung der Schmetterlinge und vom Leben der Forscherin hören können. Im elterlichen Bibliothekszimmer fand sich sogar eine handsignierte Erstausgabe des dreibändigen Werkes Der Raupen wunderbare Verwandlung und Blumennahrung . Die zahlreichen farbenprächtigen Abbildungen hatten es der Kleinen besonders angetan. Dorothea sprach langsam weiter.
    »Aber nein, es ist kein Engel, dazu sind die Flügel viel zu zart … Jetzt weiß ich es. Es ist ein Schmetterling, richtig? Und du hast ihn wunderschön gezeichnet.«
    Maria verzog den Mund zu einem stolzen Lächeln und klatschte in die Hände. »Siehst du, Moritz? Im Malen bin ich viel besser als du.«
    Ihr Bruder warf einen abschätzigen Blick auf das Blatt Papier. »Das ist ein blödes Gekrakel. Einen Schmetterling erkenne ich jedenfalls nicht darin. Den hat unsere Lehrerin auch nur geraten. Außerdem mag sie mich viel lieber als dich. Bitte, Fräulein Fassbender, sagen Sie, dass ich recht habe.«
    »Solche Worte will ich nicht hören, das weißt du ganz genau.« Dorotheas Stimme klang scharf. »Ich mag euch beide und bevorzuge niemanden. Wo Lob angebracht ist, muss es auch ausgesprochen werden. Maria hat sich viel Mühe gegeben. Vergiss nicht, Moritz, sie ist vier Jahre jünger als du. Sie bewundert ihren großen Bruder. Du dürftest ihr ruhig öfter ein freundliches Wort sagen.«
    Moritz hielt sich die Ohren zu und begann laut zu singen. Plötzlich griff er nach der Dose mit den Malstiften und stieß sie über die Tischkante. Die Stifte landeten auf dem farbenprächtigen orientalischen Teppich. Ein mehr als hundert Jahre altes und seltenes Exemplar aus Täbriz, wie die Hausherrin jedem Besucher unaufgefordert erzählte. Maria schluchzte laut auf und lief zu Dorothea, suchte in deren Rockfalten Schutz.
    »Moritz ist so gemein. Immer muss er mich ärgern.«
    »Heulsuse, Heulsuse!« Moritz hüpfte auf einem Bein um den Tisch herum und schnitt Grimassen. Gerade als er sich anschickte, auf den Stiften herumzutreten, betrat Frau Rodenkirchen das Zimmer. Ihre für eine Frau ungewöhnlich tiefe Stimme bebte.
    »Was ist denn das für ein Lärm?« Agnes Rodenkirchen war mit Fug und Recht eine stattliche Erscheinung zu nennen.
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