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Das Land zwischen den Meeren

Das Land zwischen den Meeren

Titel: Das Land zwischen den Meeren
Autoren: Anna Paredes
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sich keine Mühe mehr, die Tränen zurückzuhalten. Sie rannen ihr über die Wange, sammelten sich am Kinn. Was war sie doch für ein Kindskopf. Das also war der Grund, warum er sich mit ihr treffen wollte. Um ihr zu sagen, dass sie sich zwei Jahre nicht mehr sehen würden. Eine Zeit, viermal so lang wie die Dauer ihrer Bekanntschaft. Während er ein fernes, unerforschtes Land erkunden würde, würde sie allein in Köln zurückbleiben und ihr langweiliges tägliches Einerlei leben.
    Ein schrecklicher Gedanke durchfuhr sie, und sie fühlte, wie ihr Herzschlag für einen Moment aussetzte. Ganz bestimmt hätte Alexander sie bald vergessen. Warum sollte er noch irgendeinen Gedanken an sie verschwenden? Schließlich war sie nur eine unbedeutende kleine Hauslehrerin. Sicherlich würde er in der Fremde eine andere kennenlernen. Eine feurige, wunderschöne, reiche Frau. Eine indianische Prinzessin vielleicht, sofern es in jenem Land Indianer gab. Und das halbe Jahr, das sie beide miteinander verbracht hatten, ihre Geheimnisse, die sie sich gegenseitig anvertraut hatten, ihr Lachen, ihre Küsse, ihre Zärtlichkeiten – das alles würde nicht mehr zählen. Wäre nur ein Traum gewesen. Eine Selbsttäuschung. Ein Hirngespinst.
    Sie zog ein Taschentuch aus dem Ärmel und wischte sich über die Augen. Ein heftiges Schluchzen schüttelte sie, und ihre Schultern bebten. Ihre ganze Traurigkeit und ihren ganzen Schmerz wollte sie laut hinausschreien, doch es kam nur ein Krächzen zustande.
    »Aber Dorothea, warum weinst du? Ich glaube, du hast mich nicht richtig verstanden.« Ratlos blickte Alexander auf sie herab und schüttelte den Kopf. Und dann, nach mehreren heftigen Schluchzern, brach es unvermittelt aus Dorothea heraus.
    »Also gut, wenn du meinst … Ich verstehe dich also nicht. Dann hast du ja einen Grund mehr, von hier wegzugehen. Ich sehe das Buch schon vor mir: Alexander Weinsberg. Costa Rica – Abenteuer in einem fernen, unbekannten Land. Du wirst reich und berühmt werden, und die Frauen werden dir zu Füßen liegen. Meinen Glückwunsch! Und was aus mir wird – das kann dir gleichgültig sein.«
    Sie schlug sich die Hand vor den Mund und hielt erschrocken inne. Was war nur in sie gefahren? Ihr schien, als redete in Wirklichkeit nicht sie, sondern eine völlig andere Person. Doch beim Gedanken an Alexanders Worte flossen ihre Tränen von Neuem. Sie griff sich an den Hals, fürchtete, nicht mehr genügend Luft zu bekommen. Im nächsten Moment drehte sie sich jäh um, rannte über den engen Pfad zum Ausgang. Herabhängende Zweige schlugen ihr ins Gesicht. Immer schneller lief sie, hörte das rhythmische Klacken ihrer Stiefeletten auf den steinernen Platten.
    Kurz bevor sie das Ende des Weges erreicht hatte, rutschte sie auf dem feuchten Untergrund aus. Dabei stolperte sie über eine Stufe, die sie zu spät erkannt hatte. Sie fiel zu Boden, konnte sich gerade noch rechtzeitig mit den Händen abstützen und verhindern, dass sie mit dem Kopf aufschlug. Benommen blieb sie liegen und wünschte sich, nicht mehr zu sein.
    Wie von ferne vernahm sie Alexanders Stimme. »Dorothea, hörst du mich? Warum antwortest du mir nicht?«
    Behutsam richtete er sie auf und legte ihr den Arm um die Schultern, streichelte ihr über die Wange. Sie wandte ihm ihr tränenüberströmtes Gesicht zu, sah ihn wie durch einen Schleier.
    »Mein Liebling, was hast du nur? Willst du denn nicht meine Frau werden und mit mir kommen?«

Februar 1848
    »Hier, Fräulein Fassbender, das hab ich für dich gemalt. Kannst du erkennen, was es ist?« Maria, der achtjährige Wirbelwind, lachte laut und zeigte eine breite Zahnlücke. Mit ihren farbverschmierten Händen schob sie ein Stück Papier über den Tisch und blickte Dorothea erwartungsvoll an.
    »Das heißt Sie , du Dummliesel. Das hab ich für Sie gemalt. Ein Mädchen in deinem Alter sollte das doch längst wissen.« Moritz, ein schmächtiger Knabe, stemmte die Hände in die Hüften und machte sich so lang, wie es einem zwölfjährigen Jungen nur möglich war. Dabei zog er die Brauen hoch und setzte eine herablassende Miene auf.
    Dorothea wusste sogleich, wem er diese Pose abgeschaut hatte. Seinem Vater nämlich, dem Inhaber der Anwaltskanzlei Rodenkirchen und Rodenkirchen, die er gemeinsam mit seinem jüngeren Bruder in einem eleganten Stadthaus am Alten Markt betrieb. Anton Rodenkirchen, Dorotheas Dienstherr, der Vater von Maria und Moritz, neigte zu einer gewissen Großspurigkeit. Weshalb Dorothea
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