Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Lachen und der Tod (German Edition)

Das Lachen und der Tod (German Edition)

Titel: Das Lachen und der Tod (German Edition)
Autoren: Pieter Webeling
Vom Netzwerk:
Seekarten. Ich hatte ihn schon immer für ein höchst vornehmes Symbol gehalten. Das Zimmer war nicht groß: vier mal drei Meter. Darin befanden sich eine dunkelrote Chaiselongue, ein goldener Sessel und ein Schminktisch mit einem mannshohen Spiegel, der von Lämpchen eingerahmt wurde. Es war noch früh, gerade mal sechs.
    Auf dem Tisch lag ein Foto von meinem Vater. Henri hatte es für mich aufgehoben, in einer Schublade seines Büros. Er kannte mein Ritual: Vor jeder Vorstellung stellte ich das Foto in die rechte Ecke des Schminkspiegels. Mein Vater hatte im Ersten Weltkrieg als Freiwilliger für die Deutschen gekämpft. Fricourt 1916 – die schwungvollen handgeschriebenen Buchstaben auf der Rückseite waren beinahe verwischt.
    Ich liebte dieses Foto. Liebte diesen mürrischen Mann mit seinem dünnen Filmstarschnurrbart und seinem glänzenden, glatt nach hinten gekämmten Haar. Sein unbeirrter Blick hypnotisierte mich, weil er damit so überlebensgroß, sorglos und unerschrocken wirkte. In Wirklichkeit war er verwundbar und in sich gekehrt. Noch so ein Wunder, dass Vater und Sohn Hoffmann je einen Weltkrieg überlebt hatten.
    Aus dem Spiegel blickte mir mein faltenzerfurchtes Gesicht entgegen. Ich sah älter aus, als ich tatsächlich war. Für mich war das Lager erst einen Tag her und gleichzeitig eine Ewigkeit. Insgeheim bezeichnete ich es als Auszeit: als eine Zeit, die weder mit dem Davor noch mit dem Danach verbunden war.
    Es klopfte an der Tür. Henri kam mit einer Karaffe Wasser und zwei Gläsern herein. Er stellte alles auf den Tisch, zog sein linkes Hosenbein hoch und schnallte den Riemen seiner Beinprothese enger. Das Bein. Vor Jahren war Henri Dompteur im fahrenden Zirkus seines Vaters gewesen. Ungeduldig und unbeherrscht, wie er war, hatte er einen zahmen Bären so wild gemacht, dass das Tier ihn angriff und ihm den Unterschenkel abbiss. Danach hatte er sich als Clown versucht. Der Einzige, der Tränen über ihn lachte, war der echte Clown. Allerdings nur, um nicht weinen zu müssen, so wie immer.
    Der Bühnenmeister zog und zerrte an seinem Bein, um zu kontrollieren, ob auch alles gut saß.
    »Habe ich Besuch?«, fragte ich. »Ich meine, besonderen Besuch?«
    Toussaint dachte kurz nach und schüttelte den Kopf. »Wen erwarten Sie?«
    Ich winkte ab.
    Er richtete sich auf. »Sollen wir eine Runde drehen?«
    Wir liefen durch den langen Gang – rechts gingen die Türen zu den Garderoben ab, links standen ein paar verirrte Requisiten: eine römische Büste, zwei ionische Säulen, ein Bärenfell und ein Kleiderständer mit Decken und Togen. Henri schritt forsch voran, und zwar auffällig schnell. Plötzlich blieb er stehen.
    »Wissen Sie, dass die Deutschen hier eine Razzia veranstaltet haben? Bei Romeo und Julia, mitten im zweiten Akt. Ebenso gut hätten sie in einen Gottesdienst hereinplatzen können. Die Scheißkerle standen vor allen Ausgängen, mit Hunden. Jeder musste seine Papiere vorzeigen. Fünf Personen aus dem Publikum wurden abgeführt. ›Lauf, Junge, verschwinde!‹, rief ein jüdischer Herr. Sein Sohn, ein etwa vier zehnjähriger Bursche, rannte über die Bühne nach hinten. Ich sehe ihn noch lossausen, schnell wie der Wind. Hier bei der Brandschutztreppe wurde er von zwei Wehrmachtssol daten überwältigt, geschlagen und durch den Künstlereingang abgeführt. Ich habe protestiert, allerdings vergeblich. Die Vorstellung wurde abgebrochen.«
    Ich hörte ungerührt zu.
    »Wir hatten ein Theater im Lager«, sagte ich.
    Henri sah mich erstaunt an. »Wirklich?«
    »Dort bewahrten sie in einem Nebenraum das Gas auf, Zyklon B. Stapelweise militärgrüne Dosen. Gift! stand darauf, darunter war ein Totenkopfsymbol abgebildet. Das Gas wurde mit einem Krankenwagen zu den Gaskammern transportiert, besser gesagt in einem Wagen vom Roten Kreuz.«
    Der Bühnenmeister schwieg.
    Unsere Schritte hallten durch das Theater. Wir erreichten den Korridor, der rund um den Saal führte. Vor dem Fenster sah ich die Amstel glitzern. Ein Schleppkahn glitt vorbei mit straff gespannten Segeln. Henri Toussaint musterte mich schräg von der Seite.
    »Erinnern Sie sich noch an den Abend, als der Strom ausfiel?«
    »Ja. Zum Glück saßen die Leute bereits im Saal. Mir ist bis heute nicht klar, woher du so schnell fünf Haushaltskerzen aufgetrieben hast.«
    »Die Atmosphäre war einfach himmlisch. Fast so, als würde Jesus auf der Bühne stehen.«
    Wir lachten. Endlich.
    Ein Mann trat auf uns zu. Joop, der Feuerwehrmann. An
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher