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Das Lachen und der Tod (German Edition)

Das Lachen und der Tod (German Edition)

Titel: Das Lachen und der Tod (German Edition)
Autoren: Pieter Webeling
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dem Diamantenhändler. Wir hielten an. »Meine lieben Mitreisenden! Ich schlage vor, dass wir den vorhandenen Proviant und die Getränke gerecht untereinander aufteilen. Sind Sie damit einverstanden?«
    Zustimmendes Gemurmel.
    »Jeder bekommt einen Schluck, ich wiederhole, einen Schluck. Kinder und Senioren bekommen zwei.«
    Max schöpfte Wasser aus dem Fass. In dem Gedränge war das gar nicht so einfach, aber die kalte, metallene Kelle wanderte von Hand zu Hand, von Mund zu Mund. Fünf Schluck aus einer Kelle. Soweit ich das beurteilen konnte, hielt sich jeder an sein Versprechen, mit Ausnahme eines großen, unverschämten Kerls. Der nahm nicht einen Schluck, sondern mindestens drei. Max riss ihm den Löffel aus der Hand und warf ihm einen vernichtenden Blick zu. »Sie sollten sich zu Tode schämen!« Der Grobian fletschte die Zähne und biss nach ihm wie ein hinterhältiger Köter.
    Plötzlich ertönte ein in den Ohren schmerzendes Quietschen. Der Riegel eines Waggons hinter uns wurde aufge schoben und die Tür geöffnet. Der Diamantenhändler legte die Kelle zurück in die Wassertonne und bedeutete mir, durch den mit Gaze bedeckten Lüftungsschlitz zu spähen. Ich trat in seine zur Räuberleiter verschränkten Hände und zog mich hoch.
    »Ich sehe zig Männer in Schlafanzügen«, sagte ich. »Ein paar von ihnen haben Decken umgehängt. Sie klettern in den Waggon. Es sind …, es ist zu dunkel, ich erkenne nicht viel.«
    Ich ließ mich hinuntergleiten, denn ich hatte genug gesehen. Die Schlafanzugmänner hatten bestimmt Stunden in der beißenden Kälte gewartet. Wir hörten, wie sie panisch gegen die Wände trommelten und traten, sie tobten.
    Und dann begann die Frau ganz leise vor sich hin zu singen. Ich erkannte die Melodie der Hatikva, der Hoffnung.
    Kol ode balevav
    P’nima –
    Nefesh Yehudi homiya
    Ulfa’atey mizrach kadima
    Ayien l’tzion tzofiya.
    Dieses Lied. Diese Stimme, trotz all des Geschreis.
    3
    Gegen Abend sanken die Temperaturen noch weiter unter null. Die Senioren und die Kinder standen in der Waggonmitte, wo es geschützter und wärmer war. Mütter und Väter versuchten, die schlafenden Kinder unter ihren Mänteln warm zu halten. Das Gejammer der Schlafanzugmänner war nach wie vor bis in unseren Waggon zu hören. Zu meiner Erleichterung fuhr der Zug wieder an, und durch das laute Rattern der Räder hörte ich sie nicht mehr.
    »Ernst?«
    Eine Frauenstimme. Neben mir.
    »Darf ich dich Ernst nennen?«
    Es war der Engel im grauen Mantel. Ich schluckte. Aber was war bloß mit mir los? Unzählige Male hatte ich auf einer Bühne vor vollen Sälen gestanden. Doch in ihrer Gegen wart fühlte ich mich schüchtern wie ein Schuljunge. Ich holte tief Luft.
    »Natürlich.«
    »Ist dir jetzt nicht kalt, so ganz ohne Mantel«, flüsterte sie mir ins Ohr. »Das war eine nette Geste.«
    Ich zuckte mit den Schultern und fragte, ob sie allein hier sei.
    »Ja.«
    »Ich auch.«
    Kurzes Schweigen.
    »Wo sie uns wohl hinbringen?«, fragte sie.
    »Angeblich in ein Arbeitslager.«
    Sie nickte. »Meine Eltern und meine Schwester mit ihren beiden Kindern wurden im Sommer deportiert. Ich denke schon die ganze Zeit an sie.«
    »Bist du verheiratet? Hast du Kinder?«
    Ich erschrak über meine Direktheit.
    Sie zögerte. »Nicht verheiratet. Nicht mehr.« Ein hilfloses Lächeln. »Ich hatte eine kleine Tochter. Sie ist gestorben, kurz vor dem Krieg. An Tuberkulose.«
    Wieder hörte man nur den Lärm aus dem Waggon.
    »Wie … wie hieß sie?«
    »Henriette.«
    Ich wollte nicht aufdringlich sein, doch mich interessierte alles an ihr.
    »Wie alt ist sie geworden?«
    Sie hielt vier Finger hoch und beugte sich wieder zu meinem Ohr vor: »Wenigstens ist ihr diese Reise erspart geblieben. Das ist schon mal ein Trost.«
    »Hast du ein Foto?«
    »Ja.«
    »Zeig mal. Ich finde schon irgendwo Licht.«
    Das Foto steckte in ihrem Geldbeutel. Max, der Diamantenhändler, besaß ein Ronson-Feuerzeug. Als die Flamme aufloderte, entwich Benzindampf. Vorsichtig hielt ich das Foto in die Nähe der Flamme und sah ein Mädchen mit zwei Zöpfen und einem klaren, ernsten Blick. Ich gab das Foto zurück. Max ließ sein Feuerzeug wieder verschwinden.
    »Sie ist schön«, sagte ich.
    Sie schwieg.
    Die Lokomotive wurde langsamer, bis wir an einem hell erleuchteten Bahnsteig hielten. Eine kleine alte Frau von mindestens siebzig drängte sich vor. Sie hatte Warzen im Gesicht, einen faltigen, zahnlosen Mund und stechende, blaugraue Augen »Ich muss auf
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