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Das Lachen und der Tod (German Edition)

Das Lachen und der Tod (German Edition)

Titel: Das Lachen und der Tod (German Edition)
Autoren: Pieter Webeling
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Koffer mussten zurückgelassen werden. Wer sich trotzdem an sein Gepäck klammerte, wurde von den SS -Männern mit Knüppeln auf die Finger geschlagen. »Links bleiben!«, flüsterte einer der Männer in einem gestreiften Schlafanzug. »Sag nicht, dass du krank bist!« Ich verstand nicht. In dem Menschengewühl entdeckte ich auch Otto, den kleinen Briefmarkensammler, an der Hand seiner Mutter. Die Schiebermütze tief über die Augen gezogen, presste er das Album unter seinem Pulli an sich.
    Die Männer in grauen Schlafanzügen wurden von den Männern in gestreiften Schlafanzügen aus den Waggons gezerrt. Einige schrien vor Angst und hatten sich besudelt: Sie verbreiteten einen Gestank von Urin, Kot und Erbrochenem. Unter lautem Toben wurden sie auf einen Lastwagen getrieben. In Rosshaardecken gewickelte Leiber wurden ohne jede Rücksicht auf die Ladefläche geworfen. Ich fragte mich, ob die Kerle noch lebten oder ob sie geschwächt auf die Reise gegangen und erfroren waren. Auch Max’ Leiche wurde mit den Verrückten abtransportiert. Der Lastwagen fuhr davon.
    Der kotbeschmierte Widerling ging auf einen SS -Mann zu.
    »Wasser bitte, Wasser!«
    »Verdammter Scheißjude! Anstellen! Los! Los!«
    Da reihte er sich hastig wieder in die Schlange ein.
    Wir mussten marschieren, in einer langen Kolonne. We gen meiner Kopfwunde hatte ich ständig Schmerzen. Ich spürte den Diamanten bei jeder Bewegung. Der Engel im grauen Mantel lief neben mir. Sie hatte meinen Arm gepackt und ließ mich nicht mehr los. Mir wurde ganz schlecht bei dem Gedanken, sie bald gehen lassen zu müssen.
    Helena. So hieß sie. Helena Weiss.
    »Nicht vergessen!«, sagte sie.
    Ich lauschte auf unsere Schritte und die der anderen. Ich wollte etwas Schönes oder Geistreiches sagen oder wenigstens etwas Originelles, aber mir fiel nichts ein.
    »Ich werde dich nicht vergessen.«
    Vor uns lag eine kahle Ebene, eine zerfressene weiße Lan d schaft, von der Dampf aufstieg. Hinter einem doppelten Stacheldrahtzaun, der an Betonpfosten befestigt war, sah ich dunkelbraune, mit Suchscheinwerfern ausgestattete Wachttürme, Fabriken mit rauchenden Schloten und schier endlose Reihen von Holzbaracken. Hierher fuhren also alle diese Transporte. Hier hatte man eine Stadt für uns gebaut.
    Nach einem zwanzigminütigen Marsch erreichten wir ein eisernes Tor mit einem Schlagbaum. Vor dem Stacheldraht zaun befand sich ein weißes Metallschild mit einem roten Blitz und der Aufschrift VORSICHT . Darunter stand in schwarzen Buchstaben: Hochspannung Lebensgefahr. Wir liefen weiter durch Pappelalleen, die von lang gestreckten Kasernen aus rotbraunen Ziegeln gesäumt wurden. Auf der Rückseite des Lagers erreichten wir ein Gebäude mit hohen Fenstern. Darin befand sich eine große Halle. Wir passierten einen Offizier in einem langen Mantel. Kerzengerade stand er da, die Mütze auf dem bleichen, hageren Kopf. Er zog weiße Handschuhe an und lächelte. Der Raum war bis auf ein paar Bänke am Rand leer. Vorn standen eine Holztafel und dahinter ein SS -Mann, ein Verwalter mit schmalen Lippen und Brille.
    Die Schwachsinnigen in den grauen Schlafanzügen waren schon hineingegangen. Verschüchtert und zitternd standen sie nebeneinander. Einer von ihnen hatte Schaum vor dem Mund, ein anderer wiegte sich wie in Trance mit dem Oberkörper vor und zurück, vor und zurück, vor und zurück. Wir mussten uns in langen Reihen nebeneinander anstellen. Zwei SS -Männer postierten sich vor dem Eingang, und wir warteten. Ein Schrei. Ein Kind begann zu weinen. Beschwichtigungen, Koseworte. Dann wieder Stille.
    Ein SS -Mann kam herein und übergab dem Verwalter irgendwelche Papiere. Wieder mussten wir warten. Endlich trat der Verwalter vor, einen Block mit Formularen unter den Arm geklemmt.
    »Willkommen«, sagte er wichtigtuerisch. »Wir haben gehört, dass Ihre Reise nicht allzu komfortabel war. Es sind so einige Dinge schiefgelaufen, für die wir nichts können. Bald bekommen Sie ein Stück Brot. Die Kinder erhalten Spielzeug. Aber ich kann mir vorstellen, dass Sie sich zunächst etwas frisch machen möchten. Sie dürfen gleich duschen, mit warmem Wasser. Damit das Ganze geordnet abläuft, lassen wir Senioren und Müttern mit Kindern bis fünfzehn Jahren den Vortritt.«
    Er warf einen Blick auf seinen Block. »Als Erstes werden wir überprüfen, ob die Namen dieses Transports stimmen, ja? Ich rufe sie nacheinander auf. Ariel, Ben.«
    »Ja.«
    »Ja!«, wiederholte ein anderer kurz vor mir. Er sah
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