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Das Lachen und der Tod (German Edition)

Das Lachen und der Tod (German Edition)

Titel: Das Lachen und der Tod (German Edition)
Autoren: Pieter Webeling
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sagte er verdrossen.
    »Aber?«
    »Nun, alles war schon organisiert. Es kostete ein Vermögen, damit sie meine Familie in Ruhe lassen würden. Zumindest dachte ich das. Bis alles aufflog. Die bestochenen SS -Männer wurden verhaftet und an die Ostfront geschickt. Meine Frau und meine Kinder, zwölfjährige Zwillinge, wurden festgenommen und deportiert. Ich hatte Massel, denn ich war zu diesem Zeitpunkt nicht zu Hause. Nur was heißt schon Massel? Sie haben mich trotzdem gekriegt. Jetzt kann ich bloß hoffen, dass ich ins selbe Lager komme wie meine Familie. Und dass sich dort was machen lässt. Ich muss ganz allein auf die menschliche Gier und die Gesetze der Geschäftemacherei bauen.«
    »Und wie willst du das anstellen?«
    Er grinste breit.
    Ich hakte nicht weiter nach.
    Wir hielten erneut länger an. Das Warten machte mich ganz nervös.
    Verschiedene Leute hatten etwas zu essen hervorgeholt: Pasteten, Dauerwurst, Pfefferkuchen und Butterbrote mit Käse oder Speck. Ich selbst hatte nur einen Apfel und eine kleine Fleischpastete gegessen. Der Vorrat ging schnell zur Neige. Ein paar Kinder begannen bereits zu quengeln.
    Auf dem Schoß eines Mädchens, das an die Wand gelehnt eingeschlafen war, lag ein Stück Brot. Der Mistkerl, der sich absichtlich breitmachte und unverschämt viel Platz ein nahm, setzte sich neben sie und nahm das Brot. Seelenruhig aß er davon. Ich dachte, ich träumte! Der Vater des Mädchens, ein hochgewachsener, distinguiert aussehender Mann mit akkurat frisiertem welligem Haar hatte den Diebstahl ebenfalls bemerkt. Er packte den Mistkerl am Arm, aber das Brot war bereits weg. Hochmütig starrte er erst auf die Hand des Vaters und dann in sein Gesicht. »Nur die Stärksten werden überleben.« So lauteten seine Worte. Ich war mir sicher, dass ich ihn richtig verstanden hatte.
    Der Vater ließ los. Seine Lippen bebten. Er bückte sich, doch ich konnte nicht erkennen, was er tat. Kurz darauf hielt er die eiserne Schöpfkelle in der Hand. Er wollte seiner Tochter einen letzten Schluck Wasser geben, so als könnte er damit das gestohlene Brot wettmachen. Zumindest dachte ich das zunächst. Aber er hielt den Löffel über den Kopf des Mistkerls und goss eine braungelbe Mischung aus Kot und Urin über ihm aus.
    »Du stinkst«, sagte er.
    Der Widerling spuckte und brüllte. Wässriger Kot klebte an seinen Wangen und in seinem Haar. Er stand auf und schlug wie verrückt nach seinem Angreifer, doch das Zeug saß auch in seinen Augen. Die Leute wichen zurück. Dem Vater gelang es, den Schlägen auszuweichen, er kroch auf allen vieren davon.
    Unmut machte sich breit.
    »Verdammt, jetzt ist die Kelle schmutzig, und es stinkt noch mehr«, murrte jemand. »Der Scheißkerl hat’s verdient«, schrie ein anderer. Das Mädchen, dessetwegen alles begonnen hatte, fing an zu weinen. Ich sah zu der Frau im grauen Mantel hinüber.
    »Das geht nicht gut«, sagte sie.
    Ich nickte.
    »Kannst du sie nicht ablenken?«
    Auf einmal begannen die Leute, sich zu schubsen. Ein Mann versetzte einem anderen einen Kinnhaken, wie ein angezählter Boxer umklammerte dieser die Taille seines Angreifers. Panik breitete sich im Waggon aus, Kinder weinten, Mütter begannen zu kreischen.
    »Max!«, rief ich, »Zwei Koffer! Stabile, große Koffer!«
    »Koffer?«, wiederholte er.
    »Schnell!«
    Gepäckstücke wurden zwischen Beinen hindurchgeschoben, und schließlich lagen zwei braune Koffer aufeinandergestapelt vor mir. Ich kletterte hinauf.
    »Meine Damen und Herren! Meine Damen und Herren! Sehen Sie mich? Hören Sie mich?«
    Der Tumult verstummte kurz.
    »Ich bin als Letzter gekommen, wofür ich mich in aller Form entschuldigen möchte. Ich weiß nicht, ob Sie extra auf mich warten mussten. Einige von Ihnen haben mein ungeschicktes Entree vielleicht mitbekommen. Um ehrlich zu sein: Keine Ahnung, was da mit mir los war. Das muss ein Missverständnis sein.«
    Ich sah mich im Waggon um. Nichts als müde, verwirrte und erstaunte Gesichter.
    »Auf dem Bahnsteig traf ich einen Herrn mit Helm und grauer Uniform. Er gehörte zur Reiseleitung. ›Gibt es vielleicht auch einen Erster-Klasse-Viehwaggon?‹, habe ich gefragt. ›Oder ist dies die erste Klasse?‹«
    Ich erntete meinen ersten, vorsichtigen Lacher.
    »Wissen Sie, was er gerufen hat? ›Schwein!‹ ›Nett, dass Sie sich kurz vorstellen‹, habe ich gesagt. ›Ich heiße Hoffmann, Ernst Hoffmann.‹«
    Wie bei meinen allerersten Kneipenauftritten musste ich improvisieren. Jeder Lacher
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