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Das Lachen und der Tod (German Edition)

Das Lachen und der Tod (German Edition)

Titel: Das Lachen und der Tod (German Edition)
Autoren: Pieter Webeling
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konnte seine Hände nicht mehr ineinander verschränken, also kletterte ich auf ein paar Koffer. Wenn ich mich nicht täuschte, fuhren wir nach wie vor in Richtung Osten. Ich sah eine abfallende, trostlose Landschaft mit vereinzelten kahlen Bäumen, Birkenwäldchen oder ärmlichen kleinen Häusern. Überall standen lindgrüne Strommasten, rostige Eisenpfähle in V- oder X-Form, die durch Überlandleitungen miteinander verbunden waren. Wir passierten verfallene schmutzig weiße Bahnhöfe, an deren Gebäuden der Putz abbröckelte.
    Ich ließ mich wieder in die Menschenmenge und den Gestank zurückfallen. Ich hatte Hunger. Bei Einbruch der Dunkelheit hatten wir unser Ziel – wo immer es auch liegen mochte – nach wie vor nicht erreicht.
    »Wie kann ein Komiker nur so trübselig sein«, sagte der Engel im grauen Mantel. Wäre ich in Form gewesen, hätte ich zehn Antworten parat gehabt, aber jetzt war mein Kopf leer. Sie lehnte ihren Kopf an meine Schulter. Ich war nicht allein, zumindest fühlte sich das so an. Meine Kehle war wie zugeschnürt. Jetzt bloß nicht weinen!
    In der zweiten Nacht sanken die Temperaturen noch tiefer unter null. Die schmutzige Brühe im Fass war von einer hauchdünnen Eisschicht bedeckt. Der Arzt hatte mir meinen Mantel zurückgeben wollen, doch ich hatte abgelehnt. Ich musterte Max, seinen schweren Lodenmantel: Den brauchte ich. Der Leichnam lag an der Wand, den Kopf zur Seite gedreht, und schaukelte im Rhythmus des Waggons. Ich zog und zerrte ihn aus dem Mantel. Es war, als wehrte er sich. Eine alte Dame öffnete kurz die Augen und schlief gleich darauf wieder ein. Ich warf mir den Mantel über und setzte mich wieder.
    Das Einschussloch im Stoff war selbst für meinen kleinen Finger zu klein. An der Innenseite des Futters spürte ich etwas Klebriges. Was steckte in seinen Taschen? Durfte ich nachsehen? Ich schämte mich, konnte aber nicht anders. Ich fand einen Geldbeutel mit Münzen, Scheinen, einem Knopf, einem Rasiermesser, einem gefalteten Personalausweis und mit einem kleinen Foto mit gewelltem Rand.
    Sie war eingeschlafen. Ihr dunkles Haar roch nach Zitrone. Ich kannte ihren Namen nach wie vor nicht, aber vielleicht war das auch besser so. Männer und Frauen würden bestimmt bald voneinander getrennt. Eine Namenlose würde ich schneller vergessen können. Ich strich den Mantel unter meinem Hintern glatt, um mich vor der Kälte zu schützen, die von den Bodendielen aufstieg.
    Wir fuhren zügig weiter. Darüber war ich froh, wenn auch ohne zu wissen, warum. Ich saß auf etwas Hartem. Ich betastete den hinteren Saum. Durch das dicke Futter fühlte ich etwas. Ich holte die Rasierklinge aus dem Geldbeutel und begann, die Naht aufzutrennen. Ich schnitt mich in den Zeigefinger, achtete jedoch nicht weiter darauf. Etwas Glänzendes kam zum Vorschein. Eine Murmel?
    Ich leckte Blut aus meiner Schnittwunde. Max hatte einen Stein mitgenommen. Um seine Familie damit freizukaufen. Ich baue allein auf die menschliche Gier und die Gesetze der Geschäftemacherei. Ich untersuchte seinen Mantel zweimal minutiös. Es gab nur diesen einen Diamanten.
    Wie spät war es? Ich vermisste meine Uhr, die hatte ich nach meinem Auftritt verloren.
    Der Zug bremste und kam pfeifend und knirschend zum Stehen. Mussten wir nun wieder warten? Schreie, Hundegebell, schrille Pfiffe. Der erste Waggon wurde wieder zuerst geöffnet. Das Geräusch von aufgeschobenen Türen kam bedrohlich näher. Wohin mit dem Diamanten? Ohne nachzudenken, schob ich ihn in eine Öffnung, bei der ich davon ausgehen konnte, dass selbst die Deutschen sie nicht kontrollieren würden.
    Kurz darauf flog unsere Wagentür auf.
    »Raus! Alle Mann raus!«
    Kahlköpfige Männer in gestreiften Schlafanzügen kletterten herein und begannen, an den Menschen zu zerren, sie zu schubsen. Während sich der Waggon leerte, zog mich der Engel im grauen Mantel in eine Ecke. Sie nahm mein Gesicht in beide Hände und drückte mir einen Kuss auf den Mund. Ihre Lippen waren warm. Es war eine verzweifelte Umarmung, aber ich hätte für immer in diesem Waggon stehen können. »Bleib am Leben!«, sagte sie. »Bleib am Leben, versprich es mir.« Ich nickte, dann fragte ich sie nach ihrem Namen.
    Wir verließen den Waggon als Letzte. Der Bahnsteig war ein tobendes Menschenmeer, in dem diejenigen, die zusammengehörten, verzweifelt versuchten, zusammenzubleiben. Überall sah ich braunlederne Koffer, auf denen mit weißer Kreide der Name und das Geburtsdatum standen. Alle
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