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Letzte Haut - Roman

Letzte Haut - Roman

Titel: Letzte Haut - Roman
Autoren: Matthes und Seitz Verlag GmbH
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I
    Wer handle, brauche nicht zu hoffen. Wer hoffe, handle nicht. Wahrheit sei, was sich auszahle. Kurt Schmelz stellte kurz entschlossen den rechten Fuß auf die nächste Stufe, zog sich mit der freien Hand am Geländer hoch und überstieg, wieder in Schwung gekommen, mit dem anderen Fuß sogleich die nächste Stufe. Na bitte! Hielt er nicht durch? Er hielt durch! Mal wieder! Doktor Kurt Schmelz ließ die Kellertür ins Schloss fallen und gönnte sich im Flur des Mietshauses Nummer hundertfünfundzwanzig eine Pause.
    Das Haus hatte vor fast vierzig Jahren die Luftangriffe auf Frankfurt überstanden, die Bodenkacheln waren poliert aber blind, die Holzstufen sauber aber ausgetreten, und das Geländer knarrte, wenn Kurt Schmelz sich an ihm hoch in seine Wohnung zog. Vor einigen Wochen hatte er mit seiner Frau Anna den dreißigsten Hochzeitstag gefeiert, still und rückblickend. Vielleicht hatten sie da sogar zum ersten Mal über den Krieg und über den Nürnberger Prozess geredet, Kurt Schmelz war sich nicht mehr sicher, doch was er genau wusste war, dass sie zum ersten Mal über ihre Kinderlosigkeit gesprochen hatten. Natürlich war er aufbrausend geworden, verdammt noch mal, warum sollte ihn denn immer alle Schuld treffen? Der Zweiundsiebzigjährige Kurt Schmelz schüttelte erbost den Kopf und löste den Haken der offenstehenden Haustür, die mit einem saugenden Geräusch, das mit dumpfem Schlag endete, ins Schloss fiel. Und nun war sie weg, ausgezogen, durch diese Tür da marschiert, und ihre Koffer waren schon gepackt gewesen! Das musste man sich mal vorstellen! Seit wann waren die Koffer seiner Frau gepackt gewesen? Dass Frauen nie ehrlich und geradeaus sein konnten. Einfach weg.
    Jetzt hatte er natürlich wieder Schuld! Schuld, wenn ihr künstliches Hüftgelenk versagte und sie mitten auf einer Kreuzung im Straßenverkehr stürzte. Schuld, er habe eine ganz andere Schuld, das ahnte er, und es war diese Ahnung gewesen, die ihn hinab in den Keller getrieben hatte, um diese vergilbten Blätter heraufzuholen. Doktor Kurt Schmelz wollte der Sache nun auf den Grund gehen, ehe es zu spät wäre. Er wollte sich erinnern, denn das Erinnern war eine Art Handlung, und zu handeln, das war nun mal sein Naturell. Schon immer gewesen. Tatsachen schaffen! Tatsachen schaffen und die Konsequenzen aushalten, so hatte er sein Leben bestritten, und so wollte er es auch beenden. Der letzten Konsequenz, Doktor Kurt Schmelz spürte, es sei an der Zeit, sich ihr zu stellen.
    Die Hoffnung auf das Vergessen war gescheitert und vielleicht, Schmelz war sich da nicht mehr so sicher, gab es im Leben so etwas wie das Vergessen gar nicht. Vielleicht war das Vergessen nur ein Handlungselement aus dem Totenreich, von dem einst blinde Dichter gesungen hatten. Ob jemand wirklich je etwas vergessen hatte oder ob alle nur stets vorgetäuscht hatten, vergessen zu haben, das war unmöglich nachzuprüfen. Du hast vergessen, wir haben vergessen, das waren nur theoretische Formeln. Die einzig praktische Formel, und nur das Praktische ließ Kurt Schmelz seit jeher gelten, lautete: Ich habe vergessen. Doch das, das war nichts weiter als eine Behauptung. Nichts weiter. Und setzte man diese Behauptung mit der Behauptung gleich, du bist vergessen, schloss man also alle anderen Möglichkeiten mit dem ›Prinzip der Ausschließlichkeit‹ aus, so war Behauptung Nummer eins als Lüge entlarvt, denn Behauptung Nummer zwei war ja gelogen. Oder wie sollte das praktisch aussehen, jemandem ins Gesicht zu sagen: Du bist vergessen. Kurt Schmelz musste in sich hinein lächeln. Dieser Satz, der nicht mehr als eine leere Drohung war. Genau das war er! Eine leere Drohung. Genauso hilflos wie die vom Tod: Du bist tot. Eine Behauptung.
    Auf so etwas können auch nur Dichter kommen, dachte Schmelz, die keine Zuhörer brauchen. Er setzte sich auf die untere Stufe, starrte eine ganze Weile auf die Haustür, ehe er einen Blick auf den Bericht von Doktor Tarnat warf:
    19. 11. 1944
    Hauptsturmfuehrer Doktor Schmelz,
    die geographische Lage von Auschwitz auf der Karte zu finden, bereitete mir einige Schwierigkeiten, aber schliesslich stand ich eines Vormittags auf dem Bahnhof dieses kleinen Ortes. Irgendwie hatte ich ja gedacht, wo etwas so Unvorstellbares, Unsagbares, Ungeheuerliches vorgeht, da muss es irgendwie auch Spuren geben, aber stellen Sie sich den Ort als kleine Stadt mit grossem Durchgangsund Verschiebebahnhof vor, aehnlich Bebra!
    Dauernd gehen Zuege durch,
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