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Das Knistern in den Sternen: Roman (German Edition)

Das Knistern in den Sternen: Roman (German Edition)

Titel: Das Knistern in den Sternen: Roman (German Edition)
Autoren: Jón Kalman Stefánsson
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vorbei, den Teller leer zu essen. Sie füllt auf und sie schaut zu. Papa bekommt die doppelte Ladung. Pech, erwachsen zu sein. Die Frau kontrolliert uns, wir essen alles auf; zwei blitzsaubere Teller, zwei abgeleckte Löffel, und dann geht Vater zur Arbeit. Eine Maurerkelle wartet auf ihn, schwere Zementsäcke, ein Betonmischer, der vor lauter Umdrehungen schon seit langer Zeit völlig durchgedreht ist. In meinem Zimmer warten die englische Armee und die Partisanentruppe auf mich. Wir kämpfen nicht länger im Wohnzimmer, im Bad oder in den Schränken. Das liegt an dieser Frau.
    »Stahlsaite kommt heute nicht«, gebe ich nach der Hafergrütze bekannt, und da wollen sie eine Brücke vom Schreibtisch zur Fensterbank bauen.
    »Okay«, sage ich, und die Royal Army nutzt die Bücher, die einmal die Herren Stefan Jonsson und Stefan Juliusson geschrieben haben. Dann findet ein Kampf gegen Partisanen aus den Bergen statt, und nach der Schlacht ruhen sich alle an sogenannten Wachfeuern aus. Die Soldaten singen mit ihren dünnen Stimmchen. Seit gut dreißig Jahren klingen sie in meinem Herzen nach. Einer von ihnen sagt: »He, was ist das denn Riesengroßes im Fenster?«
    »Das ist der Tag«, antworte ich und stehe auf, weil ich Tryggvi draußen höre. Da rennt er über den Grasstreifen am Block, und sein jüngerer Bruder Gunni ist ihm stinkwütend auf den Fersen. Ich erzähle den Soldaten von den beiden Brüdern. Sie sind meine Freunde, wohnen im Eingang Nummer 56 im zweiten Stock. Tryggvi und ich sind gleich alt, Gunni ist ein Jahrjünger. Ich erzähle den Soldaten auch von Skuli. Sein Zimmer ist so mit Spielzeug voll gestopft, dass einem fast schlecht werden könnte. Sein Vater arbeitet in dem großen Haus mit dem Schiff auf dem First. Gerade kommt Tryggvi zurückgelaufen, Gunni in großem Abstand hinterher. »Stinkstiefel!«, ruft er seinem Bruder nach, dann verschwinden beide um die Hausecke.
    Wir setzen uns. Die Soldaten sind von diesem neuen Wort sehr angetan: Stinkstiefel. »Ebenso schön wie Düsenjäger«, sagen die Engländer. Ich stimme ihnen zu und berichte von dem alten Mann im dritten Stock. Er hat uns das Wort beigebracht. Er kennt eine Unmenge erlesener Schimpfwörter, die noch nie jemand gehört hat. Bestimmt sind sie genauso alt wie er, aber nicht halb so schwach. Das eine oder andere von ihnen schleudern wir wie einen Feuerball zu den Kindern aus dem vornehmen Viertel auf der anderen Straßenseite hinüber. Der alte Mann bewegt sich vielleicht langsam, aber wenn er den rechten Arm vorstreckt, kommt aus seinem Ärmel ein langer Stock hervor und verlängert seine Reichweite beträchtlich. Es ist schwer, den Stock einzukalkulieren, und als wir Jungen einmal das Treppenhaus rauf und runter stürmten, was natürlich streng verboten war, da riss der Alte seine Tür auf, kam auf den Treppenabsatz und schaffte es, mir den gekrümmten Griff seines Stocks um den Hals zu legen. Damit zog er mich langsam zu sich heran, beugte sein Gesicht ganz dicht zu meinem herab, sodass ich seinen uralten Geruch einatmen musste und mehrfach die gammeligen Bartstoppeln zählen konnte, die aus seinem Kinn und aus seinen Wangen hervorstachen, während er mich mit seinem gewaschenen Wortschatz eindeckte.
    »Ob Stahlsaite so einen Stock besitzt?«, erkundigt sich einer der Partisanen rasch, und da ist es, als ob es im Zimmer dunkel würde.

3
    »Einmal glaubte ich, das Leben wäre das, was sich bewegt, der Tod demnach der Stillstand.« Das schreibt Urgroßvater dem späteren Großkaufmann Gisli Garðarsson um die Wende zum zwanzigsten Jahrhundert, zwei Jahre nachdem er in den Norden gefahren ist, um am Sterbebett seiner Mutter zu sitzen. Sein Vater ist schon einige Jahre zuvor gestorben. Zwei ganze Monate sitzt Urgroßvater – gequält von Gewissensbissen – bei seiner Mutter, hält ihre Hand und fühlt, wie das Leben aus ihr weicht. Doch anstatt nach ihrem Tod nach Reykjavik zurückzukehren, will er es seinem Geburtsort heimzahlen und sich für die Kälte gegenüber seiner Mutter und die Geringschätzung seines Vaters revanchieren. Er lässt sich dazu hinreißen, alles in eine abenteuerliche Unternehmung zu stecken, und verliert. Eines Abends setzt er sich hin, schreibt seinem Freund einen Brief und bittet ihn darin, ihn vor dem Ruin zu bewahren.
    »Nicht dass ich irgendwie von Bedeutung wäre. Wer ist das schon? Jeder von uns siegt und unterliegt. Ruhm und Schande, alles endet gleichermaßen in Schweigen, verschwindet im hohen Gras
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