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Das Knistern in den Sternen: Roman (German Edition)

Das Knistern in den Sternen: Roman (German Edition)

Titel: Das Knistern in den Sternen: Roman (German Edition)
Autoren: Jón Kalman Stefánsson
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Herbst, noch dauert es ziemlich lange, bis der Rektor die Eingangstür zur Schule aufschließen wird. Ich überlege, ob ich für den Rest des Sommers verstummen und mit der eisernen Keule meines Schweigens bewaffnet in der Schule aufkreuzen soll. Ich kann es kaum erwarten, die erste Stunde Werken zu haben und etwas auszufressen. Der Kunstlehrer wird hämisch grinsen, mich packen, hochzerren und mit mir Richtung Keller marschieren, der fensterlos und dunkel unter der Schule kauert. Da geistert ein verstorbener Lehrer lautlos und mit stieren Augen umher. Ja, ich sehe es schon vor mir, wie der Kunstlehrer mich vom Stuhl zieht und droht: »Das bedeutet Keller.«
    Zu seiner grenzenlosen Enttäuschung wird aber kein heulender, flennender Junge an seinem Arm zappeln, sondern das Schweigen selbst, tödliches Schweigen. Der Lehrer wird mein Schweigen ebenso ratlos aufnehmen wie Frikki und keine Ahnung haben, was er tun soll.
    Das einzige Problem ist, dass es so schwer fällt, die Klappe zu halten.
    Nach ein paar Stunden brummt einem die Zunge wie eine dicke Fliege im Mund, der Mund füllt sich mit Worten, und wenn man sich weigert, sie herauszulassen, schmelzen sie im Schweigen. Sie werden zu Spucke, und dann fängt man an zu sabbern wie ein Baby. Ich begreife nicht, wie diese Frau so hartnäckig schweigen kann. Ich begreife diese Frau nicht. Andere Frauen stehen im Treppenhaus und halten ein Schwätzchen. Wenn sich zwei Frauen begegnen, fangen sie unweigerlich an, miteinander zu reden; das ist ein Naturgesetz. Wenn eine Frau in die Waschküche geht, um Wäsche aufzuhängen, gesellt sich eine zweite dazu und wirft eine Maschine mit Wäsche an; das ist ein Naturgesetz. Und wenn der Mann aus der ersten Etage ihnen begegnet, lächelt er und behauptet, sie seien so schön wie dieses oder jenes. Dann verwandeln sich die Frauen augenblicklich in große Mädchen und fangen an zu kichern; das ist ein Naturgesetz.
    Es gibt, mit anderen Worten, Verschiedenes, das die Frauen im Block gemeinsam haben und das sie einander so ähnlich macht, dass man sie manchmal nicht unterscheiden kann. Ebenso wenig wie die Männer, die allesamt jeden Morgen mit müden Gesichtern zur Arbeit fahren und abends müde nach Hause kommen. Wir Kinder sind ihnen bloß im Weg, sie grüßen nicht, sondern lassen den Kopf hängen und sehen einander so ähnlich, dass man sie nicht auseinander halten kann. Selbst der Griesgram von der zweiten Etage ist genau wie alle anderen, wenn er mit dieser Leichenbittermiene und den müden Händen aus seinem Wagen klettert.
    Aber es sind Tage vergangen, haben sich zu Wochen angesammelt, und das Telefon klingelt.
    Ich bin allein zu Hause.
    Das Telefon gefällt mir. Es verwandelt Erwachsene in weiche Stimmen, zu denen man eigentlich alles sagen kann. Ich nehme den Hörer ab, sage Hallo und bin förmlich wie ein Major.
    Eine schrille Frauenstimme ruft: »Ein Gespräch« und weiter nichts. Ich bin so verwirrt, dass ich auf der Stelle zum Leutnant werde – eine große Degradierung. Erst herrscht Schweigen, dann kommt eine andere Stimme, aus weiter Ferne, als rufe jemand hinter einem Berg hervor. Die Stimme ruft einen Namen, ich weiß, dass er mit der Frau zu tun hat, die nicht zu Hause ist, und da ich nicht sie bin, bleibe ich stumm. Das Schweigen im Draht ist erfüllt von Rauschen, voll fremdartiger Ferne.
    Die Stimme: »Wer ist am Apparat?«
    Ich: »Ich.«
    Die Stimme wiederholt den Namen der Frau. Die Stimme klingt dünner als andere am Telefon, sie erinnert mich an die Stimmen meiner Spielzeugsoldaten, wenn ich sie in den Hosentaschen mit mir herumtrage und sie mich von da aus rufen. Ich kichere.
    Die Stimme: »Wo ist sie?«
    Die Stimme ist nicht mehr dünn, sie hat sich in eine Stahlsaite verwandelt. Ich weiß, was eine Stahlsaite ist, ich habe schon eine angefasst. Eine Stahlsaite ist hart und kalt. Ich bin kein Leutnant mehr, ich bin nicht einmal Soldat, sondern nur ein kleiner Junge, und mir gefällt das nicht. Die Stahlsaite befiehlt mir, die Frau zu holen. Ich lege den Hörer weg und habe schon eine Hand an der Türklinke, als ich zögere. Nicht, dass es mir zu viel wäre, die Frau zu suchen. Sie ist einkaufen gegangen, bei Söbekk, im Milchgeschäft, bei Vogue oder im Fischladen. Doch ich denke, es wäre höflich, Stahlsaite das alles genauestens auseinander zu legen. Es ist mir auf einmal wichtig, höflich zu erscheinen. Also nehme ich den Hörer noch einmal auf und möchte erklären: Sie ist einkaufen gegangen und so
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