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Das Kind, Das Nicht Fragte

Das Kind, Das Nicht Fragte

Titel: Das Kind, Das Nicht Fragte
Autoren: Hanns-Josef Ortheil
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Kindheit gehörten. Sie zogen sich über einige Monate hin, und sie bezogen ihre starke Wirkung schon allein aus der Tatsache, dass ich endlich einmal mit der lieben Mutter allein war und sie ganz für mich hatte. Zwar beherrschte ich nach diesen intimen Stunden das Fragen
noch nicht, war aber endlich einmal einem Menschen begegnet, der mich aufmerksam etwas fragte und meine Antworten ernst nahm.

    Ganz nebenbei machten Mutters Fragen dann aber auch einen kleinen Erzähler aus mir. Ohne groß darüber nachdenken zu müssen, konnte ich mir die Welt aus eigenen Kräften erklären, ohne laufend fragen zu müssen. Ich brauchte bloß in mein Zimmer zu gehen und mich an meinen Schreibtisch zu setzen, ich musste den Füllfederhalter in die Hand nehmen und ein Schreibheft nach dem andern füllen – so und nur so erfuhr ich, was ich dachte und was mit mir los war , und nur so fühlte ich mich geborgen und sicher. Kein böses Nachfragen mehr! Keine abschätzigen Bemerkungen! Kein ironisches Kommentieren meiner knappen Antworten auf die ohnehin meist überflüssigen Fragen der sich aufspielenden Erwachsenen!

    Ich hatte das Fragen und Antworten endlich selbst in der Hand, und ich war stolz darauf, so eigenständig mit den eigenen Fragen und Antworten umgehen zu können.

6
    I CH STEHE auf, verlasse die Küche und gehe in mein Arbeitszimmer zurück. Ich öffne das Fenster und schaue eine Weile in die Ferne. Das Meer hat jenes kühle, leicht transparente Blau, das ich so mag. Es sieht aus, als wollte
es einen verführen, in eine durchsichtige, gläserne Tiefe zu tauchen. Heute kommt das für mich noch nicht in Frage, ich spüre aber längst, welche Lust ich darauf habe.

    Ich nehme den Rucksack vom Haken an der Tür, einiges Arbeitsgerät habe ich in ihm schon verstaut. In seinem offenen Schlund fahnde ich mit der rechten Hand nach dem Diktiergerät und bekomme es endlich auch in die Finger. Ich setze mich an den Schreibtisch, blicke weiter aufs Meer und schalte das Gerät ein.

    – Wie geht es Dir?
    – Ich denke viel an Zuhause.
    – Und warum denkst Du daran?
    – Weil mich diese Zimmer hier an die Kölner Wohnung erinnern.
    – Du sitzt also in Deiner Kölner Wohnung und traust Dich nicht nach draußen, Du sitzt fest und trinkst Deinen Kindersirup.
    – Ich muss an die Stunden mit der lieben Mama denken, an mein kindliches Schreiben und an unsere Unterhaltungen.
    – Und was ist mit Papa?
    – Natürlich, auch an ihn muss ich jetzt denken.
    – Was war mit Papa? Erzähl mir davon!
    – Als ich sechzehn war und Andreas gerade auszog, kam Papa in mein Zimmer, um eine Flasche Kölsch mit mir zu trinken.
    – Und was hat er gesagt, der Papa?
    – Hast Du Lust auf ein Kölsch? Das hat er gesagt.
    – Und was war mit dem Kölsch?
    – Ich hatte noch nie ein Kölsch getrunken. Meine Brüder tranken jeden Tag Kölsch, alle Welt trank Kölsch, ich nicht.
    – Und hast Du mit Deinem Papa dann ein Kölsch getrunken?
    – Ja, habe ich. Wir haben gleich mehrere Flaschen getrunken, zu zweit, in meinem Zimmer, an meinem Arbeitstisch.
    – Und was geschah dann?
    – Der Alkohol hat mich durcheinandergebracht, und ich habe wahrhaftig zu erzählen begonnen.
    – Du warst so viel Alkohol nicht gewohnt, der Alkohol tat Dir nicht gut.
    – Nein, ganz anders, der Alkohol sperrte ein großes Tor auf, und ich habe ganz mühelos und leicht erzählen können. Und Papa hat zugehört, stundenlang.
    – Was hat er gesagt? Hat er Dir Fragen gestellt?
    – Ja, aber es waren ganz andere Fragen als die, die Mama mir früher als Kind oft gestellt hat. Papa hat kurze Fragen gestellt, die mein Erzählen nur in Gang halten und vorantreiben sollten. Mama dagegen hat Verständnisfragen gestellt. Mamas Fragen ließen mich nachdenken, Papas Fragen ließen mich ausholen.
    – Papa war also nach Mama der zweite gute Zuhörer in Deinem Leben. Habt Ihr Eure Kölsch-Sitzung wiederholt?
    – Ja, wir haben sie dann und wann wiederholt, und ich habe diese Begegnungen beinahe alle noch genau vor Augen und genau im Ohr.
    – Du erinnerst Dich an das, was Du damals erzählt hast?
    – Ja, ich erinnere mich gut.
    – Und wie lange hat das gedauert?
    – Ungefähr zwei Jahre. Da schämte ich mich, mit Vater in meinem Kinderzimmer zu sitzen und ein Kölsch nach dem andern zu trinken.
    – Dabei war Kölsch zu trinken damals für Dich eine Erlösung.
    – Ja, das war es.
    – Du hast also weiterhin Kölsch getrunken, oder?
    – Natürlich, eine Weile lang habe ich jeden Tag
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