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Das Kind, Das Nicht Fragte

Das Kind, Das Nicht Fragte

Titel: Das Kind, Das Nicht Fragte
Autoren: Hanns-Josef Ortheil
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spielt während dieses Mittagessens den Kellner. Fast zwei Stunden essen wir so zu zweit, und nach dieser Mahlzeit setzt Alberto sich zu uns, und wir planen und fantasieren weiter und weiter.

    Es ist schon beinahe 16 Uhr, als wir das Kino verlassen. Paula möchte zurück in die Pension, um sich etwas auszuruhen, ich sage ihr, dass ich gleich nachkommen werde, mich aber noch um einige Details des Abendessens kümmern müsse. Wir trennen uns, und ich warte, bis sie in Richtung der Pension verschwunden ist.

    Ich stehe auf dem Domplatz, allein. Für einen Moment fröstelt es mich, und ich kann die innere Anspannung nicht mehr verbergen. Ich blicke hinauf in den Himmel, es ist ein stiller Frühherbsttag, dünne Wolken schieben sich von den Bergen her manchmal vor die Sonne und wandern dann weiter, hinunter zum Meer, wo sie sich im Meeresblau auflösen. Ist das ein Tag! denke ich, und schaue hinüber zum Dom. Ich muss es ihm jetzt erzählen, denke ich weiter, er weiß ja eh, was vor sich geht, aber ich will mit ihm sprechen, unbedingt, und sofort! Ich warte das Schlagen der Glocke zur vollen Stunde ab, dann gehe ich hinein in den Dom. Vorne links, im Querschiff, dort wartet er. Das große Kruzifix vor dem Altar, der leidende Christus am Kreuz, der die Gläubigen so anschaut, als hätte er an sie noch ein paar letzte Fragen.

    – Herr, da bin ich wieder, sage ich.
    – Schön, dass Du da bist, ich freue mich, antwortet der Herr.
    – Herr, ich habe Mandlica und seine Menschen sehr schätzen gelernt. Ich werde wohl noch einige Zeit bleiben.
    – Einige Zeit, Benjamin? Du wirst länger bleiben, ein Leben lang.
    – Ein Leben lang, Herr, bist Du sicher?
    – Ja, Du wirst in Mandlica bleiben, und Du wirst es nicht bereuen. Du wirst Paula heiraten, Ihr werdet ein Restaurant haben, und Du wirst Deine Forschungen fortsetzen.
    – Wie findest Du meine Forschungen, Herr?
    – Sehr gut, Benjamin! Neuartig, weit ausholend, eine kleine Revolution in der Ethnologie.
    – Aber werde ich meine große Studie denn auch beenden?
    – Aber ja, und das weißt Du doch längst. Nicht drei, aber zwei Bände wird sie haben, genau eintausendeinhundertachtundneunzig Seiten.
    – Genau so viele?
    – Ganz genau, Du weißt, ich irre mich nicht.
    – Aber werden meine Kollegen so etwas lesen?
    – Sie werden, und Du wirst einen Ruf an die Münchener Universität erhalten.
    – Nach München, Herr?
    – Ja, nach München. Hast Du etwas dagegen?
    – Neinnein, es ist eine große Ehre, gewiss. Ich vermute jedoch heute, ich werde diesen Ruf nicht annehmen.
    – Richtig, Du wirst ihn nicht annehmen. Du wirst Deine kleine Wohnung in Köln behalten und während des Jahres ab und zu einige Zeit dort verbringen.
    – Und wovon werde ich leben, Herr?
    – Paula und Du, Ihr werdet vom Restaurant leben und natürlich von Euren Büchern. Ich meine Paulas Übersetzungen und all die Bücher, die Du noch schreiben wirst.
    – Nach der großen Studie, Herr, werde ich keine wissenschaftlichen Bücher mehr schreiben.
    – Ich weiß, Benjamin, Du wirst andere Bücher schreiben.
    – Aber was für welche, Herr?
    – Ahnst Du das nicht längst, Benjamin? Du wirst Romane und Erzählungen schreiben. Du wirst den Lesern von Dir und Sizilien erzählen, so wie Du Dir lange selbst Dein Leben erzählt hast.
    – Ich kann es nicht glauben, Herr.
    – Dann warte ab, Du wirst schon sehen.
    – Ich habe noch eine Frage, Herr.
    – Bitte, ich höre.
    – Ich war mit Paula auf Korfu.
    – Ich weiß.
    – Was ist mit dem griechischen Gott? Ich habe keinen rechten Kontakt zu ihm gefunden.
    – Doch, das hast Du.
    – Nun gut, ja, aber was ist mit ihm? Was sagst Du über ihn?
    – Mmm.
    – Was heißt denn »Mmm«, Herr? So etwas hast Du noch nie gesagt.
    – »Mmm« heißt Mmm, Benjamin, das ist alles.
    – Mehr willst Du zu dem Thema nicht sagen?
    – Nein, Benjamin, mehr sage ich nicht. Denk selbst darüber nach, bemühe Dich mehr, ich kann Dir das nicht abnehmen.
    – Danke, Herr, ich werde mich bemühen.
    – Gut, dann geh und feiere einen schönen Geburtstag mit all den Freunden, die Du in Mandlica gefunden hast.
    – Ich hätte das nie für möglich gehalten, Herr! Mein Leben hat sich sehr verändert.
    – Das hat es, Benjamin. Du besitzt jetzt sogar einen Schlüssel zur Wohnung Deiner erwachsenen Tochter.
    – Ja, Herr, fast ist es mir peinlich.
    – Dann gib den Schlüssel doch bald zurück, Benjamin. Versprichst Du mir das?
    – Ja, Herr, ich werde ihn gleich morgen
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